Der Wind trieb wild den Schnee durch die Straßen, dicke Flocken glitzerten im Schein der Laternen und des dünnen Mondes. Der Frost zauberte weiße Blumen auf die Fenster, kleine Glitzersterne sammelten sich auf den Fenstersimsen und die Lichter in den Fenstern ließen einen Hauch von heimeliger Wärme durch die Stadt scheinen.
Das Murmeln im Inneren der Kirche erstarb, als die Glocken um Mitternacht zur Mette riefen. Die Orgel hub zu spielen an, Pater Timotheo schlug ein Kreuz vor dem Altar und wollte eben die Gemeinde begrüßen und segnen, als die Kirchentür aufsprang, als hätten die Engel des Himmels sie mit vereinter Kraft aufgestoßen. Der kalte Wind wehte Schnee in die Kirche und durch das Gestöber wurde ein Paar sichtbar, aus dem Süden stammend, vielleicht Araber, mit gebräunten Gesichtern, schwarzen Haaren, viel zu dünn gekleidet für dieses Wetter.
"Tretet ein und wärmt euch an der Liebe des Herrn!", rief Pater Timotheo. „Doch bitte: Schließt die Tür! Zwar soll jeder der Wärme teilhaftig werden, aber den Schnee schmilzt sie doch nicht. Also können wir sie auch in diesem Haus behalten."
Der junge Mann blickte den Pater dankend an. Dann sah er in die Menge, als suchte er jemanden.
"Bitte!", rief der junge Mann, „Wir brauchen Hilfe! Bitte rufen Sie einen Krankenwagen!"
Kaum war der junge Mann verstummt, seine Worte hallten noch von den Wänden wider, stieß die Frau an seiner Seite einen spitzen Schrei aus und sankt auf die Knie. Gemurmel erscholl erneut in der Kirche wie vor der Mette.
„Was soll das Geschrei in der Kirche zur Christmette?“, erregte sich eine Frau mittleren Alters. Sie hob ihren kräftigen Leib ein paar Zentimeter von der Bank, schüttelte erzürnt den Arm und sank ermattet aber immer noch erregt auf ihren Platz zurück.
„Bitte!“, rief der junge Mann erneut, während seine ebenso junge Gattin erneut einen Schrei ausstieß. „Bitte! Meine Frau…“
Wieder wurde er unterbrochen, wieder hallte ein Schrei unsagbarer Pein von den Wänden des Gotteshauses wider.
„So schreien Sie doch nicht so rum!“, brüllte ein grauhaariger Mann aus der ersten Reihe. „Dies ist ein heiliger Ort an dem…“
„Und ist nicht das Leben ebenso heilig?“, unterbrach eine Stimme die Tirade.
Die Menschen in der Kirche drehten sich um, um zu sehen, wer wohl die Impertinenz besäße, den Lärm, den das junge Paar in diesem heiligsten aller Augenblicke im Kirchenjahr gutzuheißen. Ein Mann stand auf, hochgewachsen, mit langem Haar und den seltsamsten Augen, die die Menschen jemals gesehen hatten. Das linke Auge leuchtete grün wie irisches Gras, das rechte strahlte blau wie ein See im Norden, gesprenkelt mit goldenen Tupfen.
„Bemerken Sie es nicht?“, fragte der Mann. „Sie bekommt ein Baby! Wenn jemand von Ihnen die Güte besäße, den Notruf zu wählen, könnte ich mich um Frau und Kind kümmern.“
Wieder durchzog aufgebrachtes Raunen das Gotteshaus. Pater Timotheo wandte sich an einen seiner Ministranten.
„Ich weiß, Du hast Dein Handy immer dabei, mein Junge“, sagte der alte Priester lächelnd. „Ruf bitte einen Krankenwagen.“
Wieder schrie die Frau. Der Mann mit den ungleichen Augen rollte seinen Mantel zusammen, legte ihn auf den Boden und bat die schwangere Frau sich hinzulegen.
„Sie soll doch nicht etwa hier in der Kirche ihr Kind kriegen?“, rief die kräftige Frau, die sich vorher schon über die Schreie der werdenden Mutter erregt hatte, erbost.
„Wo sonst? Draußen im Schnee?“
Der langhaarige Mann ergriff kurzerhand den nächsten Wollmantel, den er fand und breitete ihn den Protest des Besitzers geflissentlich ignorierend auf dem Boden aus, damit die junge Frau etwas wärmer und weicher liegen konnte.
„Wissen Sie“, sagte er in die empörten Stimmen der Kirchgänger hinein, „Sie sollten ein Schild an die Tür hängen. ‚Bitte nicht stören!‘ Oder ‚Be quiet! Prayer in progress.‘ Dann kommen vielleicht keine Gäste in dieses Haus, die Ihnen nicht angenehm sind.“
„Also wirklich!“, empörte sich die kräftige Frau.
„‘tschuldigung! Wenn ich schlecht geschlafen habe, bin ich manchmal etwas unleidlich.“
Der junge Mann wandte sich an die werdende Mutter am Boden.
„Tut mir leid, aber der Schlüpper muss weg. Ich vermute, Sie haben einen Geburtsvorbereitungskurs gemacht?“
Erneut schrie die Frau unter den Schmerzen einer Wehe und nickte dann schwach.
„Ja, haben wir“, bestätigte ihr Ehemann.
„Gut, ich nämlich nicht.“
Ein leises Kichern ging durch die Kirche. Der Mann mit den langen Haaren winkte den jungen Vater zu sich.
„Kommen Sie! Es ist Ihr Sohn, helfen Sie mir!“
„Woher wissen Sie…“
„Ein stattlicher Mann wie Sie muss doch einen Sohn zeugen, oder?“, erwiderte der unfreiwillige Geburtshelfer mit einem aufmunternden Lachen.
Es ging schnell. Unter weiterem Gemurmel, entrüsteten Kommentaren und ermutigenden Worten kam binnen Minuten ein Junge zur Welt, schrie sich kurz die Lungen frei und sah dann seine Eltern mit großen blauen Augen an. Vorsichtig knöpfte der langhaarige Mann der frisch gebackenen Mama die Bluse auf und legte den kleinen Jungen im dem Wollpullover des Langhaarigen gewickelt an ihre Brust.
„Wie heißen Sie eigentlich?“
„Yussuf“, antwortete der junge Vater. „Und das ist Maryam.“
„Und der Junge?“
„Wir haben uns noch nicht entschieden“, flüsterte die Frau.
Pater Timotheo lachte leise.
„Dann sollten wir schnell einen Namen für das Kind finden, damit wir es taufen können.“
Zustimmung klang durch das Gotteshaus. Der junge Vater aber schüttelte den Kopf.
„Wir danken Ihnen für die Hilfe, Pater, und für die Geste. Aber wir sind Muslime. Wir können unseren Sohn nicht von Ihnen taufen lassen.“
„Was?“, rief die kräftige Frau. „Das ist doch unerhört!“
„Nein, das ist christlich“, widersprach der Mann mit den ungleichen Augen. „Wo ist das Problem?“
„Sie sind Muslime!“
„Und?“
„Sie… sie…“
„Aber ein Kind muss doch getauft werden!“
Pater Timotheo zog gespannt und neugierig die Augenbrauen nach oben. Er sah den Helfer an, beobachtete, wie er Yussuf, der seinen Mund öffnete, seinen Glauben zu verteidigen, beruhigte, aufstand und die Menge ansah.
„Ich bin auch nicht getauft. Bin ich ein schlechter Mensch?“
Der Priester dachte einen Augenblick lang an einen Jungen, der in etwa in demselben Alter sein müsste wie dieser Mann.
„Aber wie können Sie als Christ nicht getauft sein?“, fragte er.
„Wer sagt, dass ich Christ bin? Im Übrigen fällt mir noch ein berühmter Mann ein, der als Kind nicht getauft wurde.“
„Wer?“
„Der“, antwortete der Mann, „dem Sie dienen.“
Etwas Schlimmeres hätte er nicht sagen können. Geschrei und empörte Rufe erschollen.
„Natürlich war unser Herr getauft!“, schrie die kräftige Frau. „Das ist eine Unverschämtheit!“
Der Mann lächelte geheimnisvoll und sah den Pater an.
„Vater, würden Sie bitte kurz das Evangelium nach Markus aufschlagen? Kapitel eins, Vers 9?“
„Die Taufe Jesu“, erwiderte der Priester lächelnd und wandte sich an die Gemeinde. „Unser Freund hier hat Recht. Der Herr Jesus Christus wurde erst als erwachsener Mann getauft.“
„Und wenn der Junge jetzt nicht getauft wird, heißt das nicht, dass er es nicht später nachholt.“
„Aber wenn ihm vorher was passiert?“, fragte eine alte Dame.
„Was ist dann?“
Die Menschen riefen durcheinander. Der Ungetaufte käme nicht in den Himmel, er sei verdammt.
„Das ist Ihre Auffassung“, entgegnete Yussuf lächelnd. „Aber wessen Meinung ist wirklich die Wahrheit?“
Man wollte sich nicht von einem Fremden belehren lassen, von einem Ungläubigen, der den Gottesdienst gestört hatte, von diesem unchristlichen Mann.
„Was haben Sie nur immer mit dem armen Paar? Haben Sie nichts aus dem gelernt, was in den Evangelien steht? Ein Paar irrt durch die Gegend und kommt nach Bethlehem. Die junge Frau ist schwanger und das Paar sucht eine Unterkunft für die Nacht. Aber alle Türen sind verschlossen.
Das Paar sucht nach einer offenen Tür. So wie dieses Paar hier“, sagte der Mann auf Maryam und Yussuf zeigend. „Liebe Deinen Nächsten, heißt es im Alten Testament. Wenn Sie diesem Paar in seiner Not keine offene Tür bieten, wo ist dann Ihre Nächstenliebe?“
„Aber…“
„Glauben Sie noch an das, was man Sie lehrte? Oder murmeln Sie nur nach, was man Ihnen vorsagt, weil es immer so war?“
In die Entrüstung der Menschen mischte sich kleinlautes Gemurmel. Pater Timotheo lächelte, doch in seinem Gesicht zeichnete sich auch ein Hauch Betrübnis ab.
Die Kirchentür öffnete sich und Sanitäter traten ein.
„Nebenbei bemerkt: Haben Sie auf die Uhr geschaut? Der Junge ist um Mitternacht am Heiligabend zur Welt gekommen. Hat das nicht eine gewisse Symbolik?“
In der Kirche herrschte Totenstille. Eine Tannennadel, die vom Baum neben dem Altar fiel, verursachte ein ohrenbetäubendes Echo im Raum.
„Du willst doch nicht sagen“, fragte Pater Timotheo mit einem verwirrten Ausdruck im Gesicht, „dass dieser Junge der Heiland sei, mein Sohn?“
Der Mann gab Yussuf seinen Sohn und half der jungen Mutter auf. Er griff seinen Mantel, zog ihn sich über und blickte wieder in die Runde.
„Es hängt von Ihnen allen ab. Wenn Sie dieses kleine Wunder als Zeichen nehmen, wenn Sie sich zu Herzen nehmen, was hier und heute geschah und gesagt wurde, wenn Sie die Ereignisse dieses besonderen Abends in Ihr Herz lassen, dann können SIE den Jungen vielleicht zum Heiland machen, zu dem Menschen, dessen Geburt den Beginn einer besseren Welt markiert. Er mag nicht Gottes Sohn sein. Aber ein kleiner Junge vermag vielleicht das Göttliche in uns allen zu wecken.“
Dann sah der eigenartige Mann das junge Paar an.
„Vielleicht nennen Sie Ihren Sohn Isa. Es würde passen, betrachte ich den Zeitpunkt seiner Geburt und die Namen seiner Eltern.“
Dann begleitete er das Maryam, Yussuf und den kleinen Jungen mit den Sanitätern hinaus. Als er die Tür erreichte rief ihn der Priester noch einmal.
„Du erinnerst mich an einen Jungen, den ich einmal kannte, mein Sohn. Wie heißt Du?“
Der Mann blieb stehen und drehte sich um.
„Ich glaube, ich traf den Mann, den Sie als Jungen kannte, Vater. Aber ich bin es nicht. Die meisten nennen mich Jay Cee.“
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