Sie strahlte, als wäre sie aus reinem Licht gemacht. Ihr Lachen klang wie kristallene Glocken, rein, unschuldig, voll wahrer Schönheit. Es erfüllte den Tanzsaal mit Glück und guter Laune, niemand vermochte, sich ihrem Lachen zu entziehen. Wenn sie ging, tanzte, nur freundlich lachend einer Kellnerin auswich, schwebte sie, schienen ihre Füße den Boden nicht zu berühren.
Ich stand am anderen Ende des Raumes, an dem am weitesten von ihr entfernten Punkt. Ich trank einen Schluck Apfelsaft, knabberte gedankenverloren an einem Weihnachtskeks und sah zu dieser engelsgleichen Frau hinüber. Ich sah sie tanzen, ich sah sie scherzen. Ich würde mich auf ihrer Tanzkarte eintragen. Doch meine Füße waren wie Blei.
Nur zwei Schritte von mir entfernt saß eine junge Frau, nicht älter als 18 oder 19 Jahre. Sie schien so einsam zu sein, wie ich mich fühlte, wenn ich die strahlende Königin aller Bälle betrachtete, die elegant und gleich einer Zauberfee über das Parkett glitt, und nicht den Mut aufbrachte, sie um einen Tanz zu bitten. Niemand sollte auf einem Adventsball eine solche Einsamkeit verspüren. Ich bat die junge Frau um einen Tanz, halb hoffend, es würde meine Gedanken nur für einen Augenblick von der Strahlenden, dem Engel in cremefarbenen Organza ablenken, halb hoffend, sie würde meine Aufforderung ablehnen, weil ihre Begleiter gerade von der Toilette zurückkam. Die junge Dame nahm an und wir drehten uns im Dreivierteltakt, meine Blicke und Gedanken aber hingen an IHR, an dieser einen Frau. Ich tat, als würde ich die Tanzfläche beobachten, um nicht mit anderen Tanzpaaren zu kollidieren. In Wirklichkeit aber suchte ich nur SIE.
Ich führte die junge Dame zu ihrem Platz zurück und bedankte mich höflich für den Tanz. „Damenwahl!“, rief der Kapellmeister und eine südländische Schönheit trat auf mich zu. SIE stand an ihrem Platz und während karibische Rhythmen den Saal erfüllten und ich mein Bestes gab, nicht nur im Takt zu bleiben sondern auch eine einigermaßen elegante Figur zu machen, spürte ich, wie sie mich ansah. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Blicke, bohrten sich ihre Augen förmlich in meine Seele.
Ich bedankte mich erneut für den Tanz und ging zu dem Stehtisch zurück, auf dem mein Glas stand. Ich blickte hoch, sah zu IHREM Tisch, doch sie war fort. Ich suchte den Saal ab, fand sie in den Armen eines elegant gekleideten Mannes. Sie war ungefähr einen Kopf größer als er und doch schwebten beide über die Tanzfläche, als täten sie jeden Tag nichts anderes als zu tanzen. Wieder blickte sie mich an, hielt meine Augen fest, zog meine Seele zu sich hin.
Ich musste gehen. Ich musste gehen, bevor SIE mich ganz um meinen Frieden brachte. Ich sah, wie die südländische Schönheit mit einer Freundin sprach und verstohlen zu mir blickte, doch ich war schon auf dem Weg zur Tür. Auf einem Tisch lag eine einsame Tanzkarte, eine Karte aus Perlmutt, weiß und unschuldig wie ihre Besitzeren. Es war IHR Tisch. Es war IHRE Karte. Ich zögerte, blieb stehen. Langsam steckte ich meinen Arm aus, unsicher, fast schüchtern. Dann gab ich mir einen Ruck und griff nach der Karte. Sie war leer. Niemand hatte sich eingeschrieben. Ich war der Erste, der Einzige.
Ich schritt zu meinem Tisch zurück, beobachtete SIE. Der Engel nahm seine Tanzkarte und las. Dann blickte DIE FRAU zu mir und lächelte. Sie hatte akzeptiert. Ehe ich aber dazu kam, zu ihr zu gehen und meinen Tanz „einzufordern“, berührte mich eine Hand am Arm. Mit einem letzten Blick auf SIE folgte ich der Freundin der südländischen Schönheit auf den Tanzboden. Beschwingt, angetrieben von dem Wissen, dass der nächste Tanz des Engels mir gehören würde, flogen wir durch den Saal. Als ich die Dame zu ihrer Freundin zurückgeleitete, war sie atemlos. Atemlos aber glücklich. Dann suchte ich den Engel. Ich fand sie nicht. Sie war nicht im Saal.
Ich ging auf die Terasse, um ein bisschen Luft zu schnappen. Dort sah ich sie liegen. Still, regungslos.
Sie lag auf einer Bahre. Sie war verhüllt, als die Männer sie wegbrachten. Die anderen Gäste gingen wieder in den Tanzsaal, einige waren schockiert, andere berührte gar nicht, was geschehen war.
Ich blieb auf der Terasse. Ich sah zu der Bank hin, auf der sie gelegen hatte. Der Platz war nun leer. Leer und kalt. So leer wie meine Gedanken. Dann sah ich etwas, das vor der Bank lag. Es war eine Feder. Eine unschuldig weiße Feder auf unschuldig weißem Schnee. Der Wolkenschleier riss für einen Augenblick auf und ein einzelner Stern funkelte hell am Himmel, zwinkerte mir zu. Von Ferne hörte ich noch einmal dieses Lachen, hell wie kristallene Glocken.
Ich wusste nicht, wer sie war. Aber ich wusste jetzt WAS sie war. Ich hob die Feder auf, drückte sie an mein Herz und lächelte den einen funkelnden Stern an. Du hast mir einen Tanz versprochen, Schwester. Ich werde kommen, ihn einzufordern. Nicht heute. Bald.