Mordreds Tales – Die Tanzkarte

Walzer

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Ich muss erst dieses Geheimnis lüften, dann erst, dann kann meine Zukunft beginnen.

Ich bemerkte sie nicht.
Hab mir mein Gehirn deswegen zermatert. Ich bemerkte sie einfach nicht.
Erst als es zu spät war.

Jetzt haben wir beide keine Zukunft mehr.
Sie nicht, und ich erst recht nicht.

Sie lag da, auf der Seeterrasse. Sie sah aus wie ein schlafender Engel in ihrem
Ballkleid aus zartem, glänzenden Organza, es war aufwändig bestickt, drapiert.
Es hatte eine Corsagenschnürung im Rücken. Creme. Creme nennt man die Farbe des
Kleides wohl, aber als Mann weiß man das nicht so genau.

Ein Engel, ein Engel, der schläft.

Aber keine Frau die ich kenne, legt sich freiwillig mit so einem Kleid auf die
Seeterrasse. Keine Frau.

Ich lief zu ihr hin, ich sprach sie an, ich nahm ihre Hand, ich tätschelte ihre Wange.
Aber der Engel wollte nur schlafen.

Neben ihr lag eine Tanzkarte. Eine Tanzkarte aus Perlmutt.
So etwas gab es damals in Holland, um 1890......, damals auf der Seeterrasse wußte ich das natürlich noch nicht.

Dieser wunderschöne Engel hatte nur einen einzigen Eintrag in seiner Tanzkarte. Das beruhigte mich irgendwie, auf eine seltsame Arte und Weise beruhigte es mich. War ich doch nicht der einzige Trottel, der diese Frau vorher nicht bemerkte. Den Namen des Herrn konnte ich in der Aufregung nicht entziffern, war er doch in einer alten Schrift geschrieben. Sütterlin. Ich weiß es nicht, als moderner Mann weiß man das nicht so genau.

Dann wurde ich weggestoßen, jemand rief: "Gehen Sie zur Seite, ich bin Arzt!" Es kamen immer mehr Menschen aus dem Ballsaal auf die Seeterrasse hinaus. Immer mehr. Ich wünschte, dieser Engel hätte zu Lebzeiten diese Aufmerksamkeit gehabt. Dann würde sie jetzt vielleicht nicht schlafen, in ihrem Kleid, aus Organza, in creme, auf dieser verdammten Seeterrasse. Mondlicht, Mondlicht stand ihr gut.

Jemand kam und legte eine wärmende Decke um meine Schultern.

"Ihre Begleiterin ist tot. Wir haben alles, wirklich alles versucht, sie ist tot. Es tut uns so leid."

Ich weinte um eine Frau, die ich nicht kenne. Die ich nicht einmal bemerkte, obwohl ich bereits seit 5 Stunden Gast auf diesem Ball war.

Man gab mir die Tanzkarte des Engels. Ich sah sie mir genauer an und habe den einzigen Namen gelesen auf dieser Karte.

Roman Dreyer. Roman Dreyer stand auf der Karte.

Ich bin Roman Dreyer.
Nein, ich war Roman Dreyer.

Ich bin mit ihr gestorben, ich muss erst das Geheimnis lüften um diesen Engel. Erst dann beginnt meine Zukunft.

Mein Anwalt konnte alles für mich klären. Ich kannte diese Frau nicht. Nie vorher habe ich sie gesehen.
Wie mein Name auf ihrer Tanzkarte kam, weiß ich nicht.

***


Ich habe Dich bei meinem Namen gerufen, Du bist mein. Jes. 43.1.

Ich hatte die Anzeige in der Tageszeitung gelesen. Viele Wochen später.

Zur Erinnerung an die Verstorbenen in unserer Stadt, für die es keine Trauerfeier gab, feiern wir einen ökumenischen Gottesdienst.

Wir laden herzlich ein, daran teilzunehmen.


42 Namen von Verstorbenen waren zu lesen.
Menschen, die niemand vermißt.

Mein Engel in Organza stand auch auf dieser Liste. Sie war die einzig Namenlose. Alle anderen hatten wenigstens einen Namen.

Sie war die

unbekannte Frau, ca. 30 Jahre alt.

Es war das erstemal, dass ich einen Trauergottesdienst besuchte.

Ich war Roman Dreyer.
Aber als Mann, weiß man das nicht so genau.

Ich muss erst das Geheimnis lüften, dann kann meine Zukunft beginnen.

Ich bemerkte sie nicht.
Ich habe Augen und kann nicht sehen.
Ich habe Ohren und kann nichts hören.

Erst als Stille war, und alles Licht erloschen ist, liebte ich.

Komm noch einmal zu mir zurück, mein Engel.
Ich bin Dein Mann, und ich weiß es jetzt.

***

Ich traf Anna nie. Wir telefonierten oft miteinander. Das erste Mal rief sie vor drei Jahren bei mir an, weil ihr Computer streikte.

„Ihr Kollege meinte“, erzählte sie mir, „er kann meinen Rechner nicht anpingen und wollte sich darum kümmern. Das war vor zwei Stunden. Ich muss bis zwölf eine Präsentation fertig haben. Können Sie mir nicht wenigstens einen Tipp geben, wie ich das auf andere Weise machen kann?“

Annas Stimme war schön. Wenn ein Sonnenaufgang einen Klang hätte, würde ich wetten, es wäre Annas Stimme. Schade, dass sie damals so genervt klang. Aber ich konnte es verstehen. Wenn man unter Zeitdruck ist und nichts geht, dann ist das nervig. Aber ich bin Profi.

„Wenn Sie mir sagen, wer Sie sind, weiß ich, um welchen PC ich mich kümmern muss.“

Der erste Fehler eines jeden DAU ist nämlich, das Problem zu schildern, bevor man weiß, wen man an der Strippe hat.

„Oh!“, meinte Anna.

O ist ein schöner Name. Mir fiel spontan ein nicht ganz jugendfreies Buch ein.

„Mein Name ist Richter. Ich sitze hier oben im Sekretariat der Geschäftsführung und muss bis zwölf eine Präsentation fertigmachen.“

Ja, die Präsentation hatte sie schon erwähnt. Nutzte mir überhaupt nichts. Um der Dame helfen zu können, musste ich nicht wissen, was sie zu tun hatte, sondern was sie aktuell tun konnte und was nicht.

„Dann erzählen Sie mir doch einmal ganz langsam, wo das Problem ist. Können Sie den Rechner hochfahren?“

„Kann ich“, bestätigte Anna. „ich kann mich auch anmelden aber ich komme an meine Dateien nicht ran. Wenn ich dann mein Schreibprogramm starte, meldet der Computer, H Doppelpunkt steht nicht zur Verfügung.“

Ein Netzwerkproblem. Ich beschwichtigte Frau Richter aus dem Sekretariat der Geschäftsfüh­rung, klemmte mir den Hörer zwischen Kopf und Schulter und widmete mich kurz meiner Tastatur. Weder war Frau Richter angemeldet noch war der Rechner irgendwie erreichbar. Da er hochgefahren war, war es vermutlich ein Verbindungsproblem.

„Steckt der Netzwerkstecker richtig in der Dose?“

„Woran erkenne ich den? Sorry, ich habe WLAN zuhause.“

Ganz ruhig, Großer. Ist nicht für jeden einfach.

„Ein kleiner grauer Stecker, der in einer kleinen Dose in der Wand stecken sollte.“

„So ein viereckiger?“

„Ganz genau.“

Eine kurze Pause entstand.

„Der Stecker sitzt fest“, informierte mich Anna schließlich. „Ich habe kurz dran gewackelt, der sitzt fest.“

Eine Ursache war ausgeräumt. Entweder war das Kabel defekt oder im Wiring Center stimmte was nicht.

„Warten Sie“, drang Annas Sonnenaufgangsstimme aus dem Hörer. „Ich habe gerade nach dem Stecker am PC nachgesehen. Der war locker. Ich glaube … Irgendwas tut sich gerade … Ja, ich glaube, das war's. Hätte ich auch gleich drauf kommen können.“

Manchmal hilft es, einfach darüber zu reden. Manchmal sieht man einfach den Wald vor lauter Bäumen nicht. Selbst hier in der IT gibt es Menschen, die erst nach den komplizierteren Ursachen forschen, statt Schritt für Schritt erst die Kleinigkeiten auszuschließen.

„Schön, dass auch die IT für sich in Anspruch nimmt, aus Menschen zu bestehen“, flötete Anna. „Wenn nur alle so einsichtig wären und uns Normalanwender nicht immer als DAU hinstellen würden.“

Manchmal denkt man auch nicht daran, die Klappe zu halten, wenn man denkt.

Zwei Wochen später rief Anna wieder an. Ich hörte nur, dass mein Kollege höchst ungeduldig mit einem Anwender diskutierte und versuchte, ihm etwas zu erklären. Nach ungefähr einer Viertelstunde sah er mich an und sagte, ich solle das mal übernehmen, die Dame wollte gerne mich sprechen.

„Hallo?“

„Schön, dass Sie da sind“, kam Annas Stimme aus dem Hörer. „Ich habe irgendwie nicht verstanden, was Ihr Kollege von mir wollte. Vielleicht können Sie mir helfen.“

Annas Stimme klang genauso schön und warm wie beim ersten Mal. Sie brauchte irgendwelche Grafiken für eine neue Präsentation. Ein paar Cliparts, Diagramme.

„Die Cliparts habe ich“, sagte sie, „obwohl ein paar andere sicherlich schöner wären. Aber es wird schon gehen.“

„Haben Sie schon Google nach Cliparts befragt?“

„Nein“, gab Anna zu. „Geht das? Klar, ja. Muss ja nur die Grafiken speichern. Gut, wenn man mal darüber redet.“

Ich konnte Anna förmlich durch das Telefon lächeln sehen. Schade, dass wir kein Bildtelefon haben.

„Schön“, antwortete ich, „dass in der Geschäftsführung auch nur Menschen sitzen.“

Damit waren wir quitt. Ich wollte Frau Richter noch einen schönen Tag wünschen und ihr sage, dass es mir eine Freude war, ihr erneut helfen zu können. Oh ja, es war eine Freude. Bei dieser netten Stimme … Aber die nette Stimme wollte mich noch etwas länger ans Telefon fesseln.

„Bleiben nur noch die Diagramme. Haben wir irgendein Programm, mit dem man Exceldaten in ein ein Diagramm umwandeln kann?“

„Ja, haben wir.“

Ein Ausdruck der Freude und Erleichterung kam durch das Telefon. Wieder sah ich vor meinem inneren Auge eine schöne Brünette um die 30, die engelsgleich lächelte und sich etwas entspannter als eben noch in ihrem Stuhl zurücklehnte.

„Können Sie mir das Programm zur Verfügung stellen?“

„Nicht nötig“, sagte ich sanft, „Sie haben es schon.“

„Echt?“

„Ja“, gab ich mit einem Hauch freundlicher Belustigung an, „es heißt Excel.“

„Kann man Exceldiagramme als Grafiken speichern? Ich brauche sie ja in Powerpoint.“

„Das sollten Sie den Helpdesk fragen, Frau Richter, die kennen sich damit etwas besser aus. Ich kann Ihnen aber verraten, dass Sie in Powerpoint direkt Diagramm aus Excel einfügen können.“

Anna fragte, ob ich ihr das kurz erklären könne, dann müsse sie sich nicht weiter durchfragen. Natürlich erklärte ich es ihr. Zehn Minuten später meldete Anna das erfolgreiche Einfügen eines Diagramm in ihre Präsentation. Ihr nächster Anruf kam zwei Tage später. Diesmal erwischte sie gleich mich. Sie wollte sich bedanken. Ich hätte ihr so viel Zeit und Mühe erspart.

„Gern geschehen, Frau Richter.“

Von da ab verlangte Anna immer mich, wenn sie in der IT anrief. Irgendwann gab ich ihr dann meine direkte Durchwahl, irgendwann bat sie mich, sie Anna zu nennen. Wir einigten uns auf unsere Vornamen und darauf, „Du“ zueinander zu sagen. Es war Annas exklusives Vorrecht, mich auf diese Weise anzusprechen und auch sie pflegte im Umgang mit Kollegen mehr Distanz zu wahren.

Irgendwann nach einem Dreivierteljahr schrieb Anna mir eine E-Mail nachhause. Ich male in meiner Freizeit und sie hatte meine Werke im Internet bewundert. Was ich malte, hatte keinerlei Zusammenhang. Manche Bilder hatte eine tiefere Bedeutung, manche erzählten einfach eine Geschichte. Anna war fasziniert, ergriffen, glaubte in dem einen oder anderen Werk etwas aus ihrem eigenen Leben wiederzufinden. Es war ihr, als würden wir uns schon länger kennen als nur dieses Dreivierteljahr, als seien wir uns in einem anderen Leben begegnet oder in irgendeiner Form seelenverwandt. Anna konnte nicht malen, kann es immer noch nicht. Aber sie kann mit Worten umgehen und schrieb mir Verse, die sie mit dem einen oder anderen Bild verband.

Anna sprühte vor Kreativität. Wir schrieben uns, diskutierten über die Welt, über Gut und Böse. Die Verhältnisse verkehrten sich. Anna schrieb Gedichte und ich malte dazu. Aus Spaß an der Freude. Aber Anna meinte, ich solle unbedingt einmal eine Ausstellung auf die Beine stellen, solle meine Bilder in eine Galerie hängen. Anna wurde meine beste Freundin und obwohl ich sie nie traf, kann man es wohl Liebe nennen, was wir füreinander empfanden.

Es begab sich, dass wir irgendwann von den Themen, die uns zusammengebracht hatten abkamen. Anna nahm mich immer mehr in ihr Leben hinein. Mir gefiel das und irgendwann, nahm ich mir vor, musste ich Anna treffen. Anna erzählte mir von ihren Nachbarn, wir nahmen uns in Gedanken mit auf Konzerte und ins Theater und mein Wunsch, Anna zu treffen wurde größer. Ich wollte erleben, was ich nur lesen durfte.

Immer wieder glaubte Anna, sie würde mir Zeug erzählen, das mich eigentlich nur langweilen könnte. Bei jedem anderen Menschen hätte es mich wohl gelangweilt. Nicht bei Anna. Trotzdem begann ich, andere Dinge zu tun. Ich trieb mich hier und dort rum. Wenn ich eigentlich Zeit gehabt hätte, Anna ausführlich zu schreiben, reparierte ich den Computer eines Nachbarn oder ging in meine Lieblingsbar.

Anna wollte mich nicht festhalten. Ich durfte gehen, wohin und wann ich wollte. Und doch machte sich Enttäuschung breit. Was immer ich tat, ich tat es mit Anna. Ich trug sie im Herzen. Bei einem bestimmten Lied in einem Konzert spürte ich sie auf meinem Schoß. Nachts im Bett lag sie neben mir. Ich glaube, ihr ging es nicht anders. Und doch breitete Enttäuschung ihre Flügel über Anna aus, weil ich immer wieder nicht da war, wenn eigentlich so viel Zeit dagewesen wäre, sich wenigstens per Mail zu treffen. Und dann eines Tages …

Ich ging mit Freunden aus. Eigentlich wollte ich nicht allzu lange bleiben, doch der Abend war lustig und die Zeit verging. Als ich dann nachhause kam, war es spät, kurz vor Mitternacht. Und ich kam nicht allein in mein Heim.

Ich wollte Anna nicht ohne Gruß ins Bett schicken. Also schrieb ich ihr eine kurze Mail, umriss die Situation in kurzen Worten, dass ich nicht allein sei sondern mit einer netten Dame plauderte. Anna war enttäuscht. Sie war noch enttäuschter als sonst. Sie hatte sie genau so eine Nacht mit mir gewünscht. Sie wollte so gern …

In ihrer letzten Mail an mich schrieb sie mir, dass sie gekündigt und eine Stelle bei einer Umweltstiftung angenommen hatte. Sie schrieb, dass die letzten drei Jahre die schönsten ihres Leben gewesen seien. Sie schrieb, dass sie mich nie vergessen würde.

***

Die Gedenkfeier ist vorbei, aber ich bleibe noch, stehe vor den Fotos und bin still. „Unbekannte Frau, ca. 30 Jahre alt“ - sie ist es, die ich ansehe.

„Um wen trauern Sie?“, fragt mich der Pfarrer.

Ich zeige stumm auf das Bild der Unbekannten.

„Es ist schön, wenn auch jemand an die denkt, für die sonst niemand hier ist. Kannten Sie sie?“

Ich schüttle den Kopf, sage leise „Nein.“ Ich weiß nicht, wer die Unbekannte ist. Aber für mich hat sie einen Namen. Für mich heißt sie Anna Richter. Sie war meine große Liebe, ist meine große Liebe. Die eine Liebe, die nur und ausschließlich aus meiner Seele stammt. Sie ist der Engel aus Organza auf dem Ball. Ich war nie auf einem Ball, ich kann nicht einmal tanzen. Es war nur ein Traum und doch war es die Wahrheit. Anna Richter mag es noch geben, aber meine Anna ist tot. Sie starb eines Nachts.

Ich kenne den Namen der Unbekannten nicht, aber für mich heißt sie Anna Richter. Ich streiche noch einmal liebevoll über das Bild, dann gehe ich wortlos, mit Tränen in den Augen.

Mein Name ist Oliver. Oliver Hochstätter. Doch das bin ich nicht. Ich bin Roman Dreyer.

Komm zurück mein Engel. Ich bin Dein Mann. Das weiß ich jetzt.