Es war eine Vollmondnacht im Januar. Das Seeufer war erfroren, Schnee lag wie ein weißes Federbett auf Boden, Strauch und Dach. Das Flackern Hunderter Kerzen erhellt den Saal, das Feuer zweier Kamine schenkte den Tanzenden Wärme.
Ein Streichquartett spielte zum Tanze auf. Zwei Violinen, eine Viola und eine Cellistin, die direkt vom Himmel gefallen zu sein schien. Ein Mann, der diese Frau sieht, will ihr ein Glas Champagner bringen, ihr einen Strauß bunter Blumen schenken und mit ihr durch den Park des Schlosshotels spazieren.
Es war ein Barockabend. Damen wie Herren waren gewandet wie im 16. Jahrhundert. Zumindest waren alle gekleidet, wie sie sich die Mode damals vorstellten. Selbst das kleine rothaarige Teufelchen, das an der Terrassentür stand. Oh nein, dieses Mädchen weckte nicht den Wunsch nach einem Spaziergang im Park.
Die große Standuhr schlug zehn und ich stand am großen Fenster mit dem Blick auf die See. Ich hielt ein Glas Rotwein in der Hand und beobachtete die Wellen, das Auf und Ab des Wassers, die Leidenschaft mit der das Meer sich bewegte. Auf und ab, hin und her, vor und zurück, als hörte die See die Musik im Tanzsaal. Als tanzten die Wellen Walzer miteinander. Polonaise. Es war eine Polonaise. Die meisten Menschen im Saal tanzten trotzdem Walzer.
Die Polonaise wich einer Sarabande, als ich sie sah. Ich sah sie nicht eigentlich. Ich sah nur ihr langes weißes Kleid. Sie ging durch die Tür auf die Terrasse. Wer war sie? Wer war die Frau, die in einem langen weißen Kleid mit einer Schleppe in den Winter hinausschritt, als wäre sie eine Braut, die auf ihrer Hochzeit zu einem Stelldichein verschwindet? Ich musste es wissen.
Ich stellte mein Glas zur Seite und folgte der Frau in die Kälte. Der Schnee knirschte leise unter meinen Schuhen. Eine leichte Brise ging durch die Bäume im Park, doch die zuckergussgleiche Decke aus eisigen Sternchen schien jedes Geräusch mit Ausnahme meiner Schritte zu verschlucken. Ich sah mich nach der Frau in Weiß um. Da! Die Frau in Weiß lief auf ein Nebengebäude des Schlosses zu. Die Schleppe, die sie hinter sich her zog verschmolz mit dem Weiß des Schnees und ließ die Frau erscheinen, als sei sie selbst aus Schnee gemacht, eine Figur aus Eis. Eine Schneekönigin. Unwillkürlich war Andersens Märchenfigur in meinem Kopf.
Die schwere Tür fiel hinter mir ins Schloss. Irgendwo draußen heulte ein Wolf. Es klang, als stünde das Tier nur einige Meter entfernt, aber der Wolf musste draußen sein. Wie sollte ein Wolf in das Schloss gelangen? Wie sollte ein Wolf neben mir stehen, ohne dass ich ihn sah, ihn roch, ihn spürte. Ich blickte mich um, sah die Frau oben auf der Treppe stehen. Ihre Schleppe lag auf den Stufen wie ein Teppich. Die weiße Dame drehte den Kopf zur Seite. Wollte Sie, dass ich ihr folge? Wollte … Die Frau ging weiter. Wieder heulte der Wolf. Wieder schien er nur wenige Schritte entfernt zu sein. Ein zweites Heulen ertönte, ein anderer Wolf antwortete. Noch näher diesmal. So nahe, als stünde das Tier direkt neben mir. Vor mir. Hinter mir. Ich konnte es nicht sagen.
Ich ging die Treppe hinauf und sah die „Schneekönigin“ in einem Zimmer verschwinden. Als sie den Raum betrat, drehte die weiße Frau erneut ihren Kopf zur Seite, einladend, auffordernd. Die Zimmertür schwang zu, fiel aber nicht ins Schloss. Ich zögerte. Sollte ich der Frau wirklich folgen? Was erwartete mich? Ein leises Zischen erklang und einen Augenblick drang ein warmes Licht durch den Türspalt.
Die Tür schwang lautlos nach innen. Hunderte Kerzen schienen den Raum zu erleuchten. Die Frau stand mit dem Rücken zu mir. Seiden schimmerte ihre Haut, der Duft von Vanille umwehte sie. Die Frau drehte sich um. Ihr Kleid glitt zu Boden, ihre Lippen öffneten sich einen Spalt, erwartungsvoll, fordernd …
Die Uhr schlug zwölf. Ich stand an der Bar und bestellte einen Tequila Sunrise. Es war sicherlich kein barockes Getränk, aber das scherte mich nicht. Ich habe keine Ahnung, wie ich zurück in den Tanzsaal kam. Ich weiß nicht einmal, wie ich wirklich in jenes Zimmer gelangt war, in dem die Frau in ihrem weißen Kleid mich erwartet hatte. Ich erinnere mich auch nicht, wie sie aussah, nicht an ihr Gesicht, nicht an die Farbe ihrer Haare. Das einzige, woran ich mich entsinne, ist die Leidenschaft, mit der wir uns einander hingaben.
Ich nahm meinen Cocktail und ging auf die Terrasse. Dort lag eine Frau in einem Kleid aus Organzastoff. Es war Januar und es war viel zu kalt, um sich nur in einem dünnen Kleid auf die Terrasse zu legen. In der Ferne heulte ein Wolf. Leute strömten aus dem Tanzsaal. Sie umringten die Frau, die am Boden lag. Ein Engel in Organza. Ein Engel im Schnee.
„Gehen Sie zur Seite, ich bin Arzt!“, rief ein Mann.
Neben der Frau lag eine Tanzkarte aus Perlmutt. Nur ein Name stand auf der Karte. Mein Name.