"Schade, ich habe keine Zeit", hätte ich sagen sollen.
Aber, ich hatte Zeit, und genau das wußte sie.
"Schade" ist ein Bedauern, ein Schulterzucken mit Umdrehen und Weggehen.
Ja, das hätte ich tun sollen. "Schade" sagen.
Sie gab mir die Karte für den großen Ball. Als sie mir ihre Tanzkarte zeigte,
drängte sie mich förmlich dazu, dass ich mich eintragen sollte.
"Was issn das fürn Blödsinn ?", grummelte ich.
"Komm, tanz den Walzer mit mir !" Sie drehte sich dabei fröhlich lachend im Kreis.
Also wartete ich ein paar Tage später vor dem großen Ballsaal unserer Stadt auf sie.
Wie hieß sie doch gleich ? Annabell. Die Begnadete, die Schöne, die Anmutige.
Ihre Eltern müssen blind vor Freude und Liebe bei ihrer Geburt gewesen sein.
Annabell ist weder begnadet und schon mal gar nicht schön und anmutig.
Annabell sah aus wie eine Iphigenie.
Während ich auf Annabell Iphigenie wartete, dachte ich darüber nach, wie ich aus dieser
bekloppten Ballnummer wieder rauskommen könnte. Ein Notfall in der Familie ? Sollte ich
über die Bordsteinkante stolpern und in die Pfütze fallen und meinen einzigen Anzug ruinieren
und ihn so balluntauglich machen ?
Ich wartete. Ich überlegte.
Dann kam Annabell. Sie winkte mir von weitem zu und strahlte.
Ich befahl meinem Gesicht ebenfalls zu strahlen, nur meine Hand wollte nicht so wirklich winken.
"Los, lächle Du Vollpfosten. Strahle zurück." .
Ich strahlte. Sogar meine Hand konnte jetzt winken. Gut, dass ich heute noch beim Training war.
Manchmal braucht man Muskeln im Gesicht, um zu lächeln und Muskeln, um den Arm zum Gruße zu heben.
Ach so, ich stellte mir damals einfach nur vor, dass auch diese Ballnacht irgendwann einmal ihr gnädiges Ende finden würde.....
und dann konnte ich plötzlich strahlen. Winken. Strahlenwinken.
Annabell nahm mich sofort in Beschlag. Sie hakte sich munter unter, und wir beide gingen Richtung Ballsaal.
Als ich die Champagner Stehtische sah wurde mir übel. Kotzübel.
Wir betraten das Foyer. Annabell meinte zu mir: "Du, ich geh mal aufs Klo, besorgst Du mir einen
Prosecco ?"
"Warum geht Anna- Iphi jetzt verdammt nochmal zum Klo ?" Die kommt doch grad erst von zuhause ?
Nie werde ich die Weiber verstehen.
Wir lernten uns in einem Park kennen. Annabell und ich. Ich joggte, und ihr Hund wollte nur mit mir spielen. So lernten wir uns
kennen. Sie entschuldigte sich für den Hund, der nur spielen wollte und versprach mir ein Bier als Entschädigung
für den Schrecken, den ich bekam. Dieser Köter frißt morgens um halb zehn keinen Knoppers sondern kleine Kinder.
Da war ich mir ganz sicher.....
Seitdem kenne ich Annabell. Nein, Annabell kennt mich. Ich kenne sie nur. Oberflächlich.
Wenn ich Zeit habe treffen wir uns. Zwischen den Terminen sozusagen. Annabell kennt mich nur rast- und ruhelos.
Meistens sieht sie mich nur von hinten, sie kommt, ich gehe. Ich gehe, sie bleibt.
Schade. Ich hätte damals im Park "Schade" sagen sollen, aber ich sagte nicht Schade. Ich hatte Zeit und so trafen wir uns auf ein
Bier am Abend. Das ist jetzt ein paar Jahre her. Annabell blieb. Während ich immer wieder weiter eilen musste.
Und deswegen stand ich an diesem Abend mit einem Prosecco in einem Foyer auf einem Ball und wartete auf
Annabell.
Ich hielt nach ihr Ausschau. Was für ein Kleid trug sie ? Ich erinnerte mich nicht.
Die Weiber sahen alle gleich aus. Wie Zuckerwatte, wie Torte, wie Knallbonbons. Und die Männer ? Alles Pinguine
und Oberkellner.
Dann sah ich sie.
Nein, Nein....ich sah nicht Annabell. Ich sah sie.
Meinen Engel, meine zukünftige Frau, die Mutter meiner Kinder.
Der Engel war von schlichter Eleganz. Sie schwebte durch das Foyer. Ihr Ballkleid war rückenfrei. Ich sah ihre
zarten Schultern, ihren Rücken, den ich küssen musste. Ihr Kleid hatte eine Schleppe, goldene Engelslocken umspielten
sanft ihren schlanken Körper. Sie trug keinen Schmuck. Kein Schmuck dieser Welt wäre ihr gerecht geworden.
Nur ein Ehering hätte diesen Engel noch vollkommener machen können. Mein Ring, an ihrem Finger.
"Komm, steh grade, Brust raus, Bauch rein. Das ist der eine Augenblick von dem wir unseren Kindern erzählen werden.
Der Augenblick, an dem wir uns kennenlernten. Der Moment, der unser Leben verändern würde. Sie ist die Frau.
Meine Frau. Und ich Vollhorst stehe wie bestellt und nicht abgeholt mit einem Proescco in der Hand hier rum.
Sie muss denken, dass ich schwul bin..... Mein, Engel....ich komme, warte auf mich."
Ich stellte das Prosecco Glas auf einem der Stehtische ab und folgte diesem Hauch von Seligkeit. Alles musste jetzt perfekt sein.
Keinen Fehler durfte ich mir erlauben, denn DAS ist dieser Moment, von dem wir noch lange erzählen werden.
Meine Träume wurden jäh unterbrochen, als jemand an meinem Anzugärmel zupfte. Es war Annabell. Ich machte ihr kurz ein
Kompliment wegen ihres Kleides und ihrer tollen Frisur und dann ließ ich sie stehen. Annabell schrie mir noch irgend einen Blödsinn hinterher....
"Ich trage kein Kleid, ich trage einen Hosenanzug, Du verdammter Vollidiot......!"
Mir egal. Der Hosenanzug war sicherlich auch schön. Annabell war wütend. Aber sie war immer wütend.
Die beruhigt sich schon wieder.
Da war sie wieder. Mein Engel, meine Frau. In Gedanken lag ich mit ihr im Bett. Sie hauchte mir Unanständiges in mein Ohr. Ich spürte
ihren warmen Atem, ihren Körper.....
Meine zukünftige Frau beachtete mich jedoch nicht. Nun gut, das kann ich verstehen.
Verbietet es doch ihre gute Erziehung, mir sofort ihre Zunge in meinem Hals zu stecken.
Ich strahlte sie an. Ich ging auf sie zu. Ich bat zögernd um ihre Tanzkarte.
Jetzt bloß keinen Fehler machen, jetzt muss alles laufen, sie ist die Frau, meine Frau.
"Darf ich......," stotterte ich sie an und wurde dabei krebsrot im Gesicht.
Ich schaute dabei auf ihre Tanzkarte, die bereits gut gefüllt war.
Mit zitternden Fingern, schweißnassen Händen trug ich mich dort ein. Sie lächelte. Ihre Lippen glänzten, ihre grünen Augen strahlten.
Ich reichte ihr die Tanzkarte zurück, blickte ihr wissend, um unsere gemeinsame Zukunft, tief in die Augen.
Dann drehte sie sich um und ging. Sie ging einfach.
Ich folgte ihr, durfte sie nicht aus den Augen verlieren.
Ich lächelte. Immer wieder müssen wir unseren Kindern erzählen, wie wir beide uns kennenlernten auf diesem Ball. Immer wieder.....
Nun gut. Sie beachtete mich nicht.
Ich verstand ihre Zurückhaltung, Ja, ich verstand sie.......aber so langsam könnte sie ein wenig zutraulicher werden.
Annabell kam noch ein einziges Mal zu mir hin. Ich hob sie voller Freude hoch und drehte mich mit ihr einmal im Kreis.
"Danke, Danke" , jubelte ich. "Ich werde Dir gleich meine zukünftige Ehefrau vorstellen....."
Ich setzte Annabell wieder ab und ließ sie verwundert zurück.
Der Ball konnte beginnen. Man spielte einen Walzer zur Eröffnung.
Ich suchte den Saal nach diesem Engel ab. Annabell ging an mir vorbei, Richtung Außenterrasse.
Plötzlich wurde der Walzer durch eine Mikrofonansage unterbrochen.
"Ist ein Arzt anwesend ? Bitte kommen Sie sofort zum Außenbereich. Südseite des Saales."
Die Menschen strömten dorthin. Annabell lag auf dem Boden. Auf einem roten Teppich. Neben ihr lag
die Tanzkarte. Ich konnte meinen Namen erkennen, den ich nur widerwillig auf ihre Karte schrieb vor ein paar
Tagen oder war es schon Jahre her......?
Annabell war tot. Sie starb an einem Tag, an dem ich so glücklich war.
Die Arme, jetzt wird sie mein Glück nicht mehr miterleben dürfen.
Der Hosenanzug war wirklich schön, den sie trug, aber das sagte ich ihr ja bereits.
Gut, dass ich der armen Annabell noch ein letztes Kompliment machen konnte.
Ich suchte nach meinem Engel. Ich fand meinen Engel. Das war nicht einfach. Waren doch zwischenzeitlich alle Menschen
vom Ballsaal auf die Außenterrasse gestürmt, nur um Annabell zu sehen.
Mein Engel stand ein wenig abseits. Sie telefonierte. Sie sprach sehr laut, wütend, erregt, zornig.
Mein Gott, diese Stimme, sie paßte nicht zu ihr. Die Stimme war so..... so prollig.....
"Ey, voll die Scheiße hier. Da stirbt die Alte doch einfach und schmeißt den ganzen Ball hier. Alles umsonst.
Das Sonnenstudio, das Fingernagelstudio, ey und dann noch die blöde Fußpflege vorher....trommeln könnt ich vor Wut, trommeln.
Das geliehene Kleid, ey was für ne Kacke. Und von wegen, reicher Freier, den
ich mir hier angeln könnte. Dat kannse voll vergessen. Hier sabbern nur alte Säcke um mich rum.
Komm, hol mich ab, laß uns in die Stamm Disse fahren, ich hab sowas von die Schnauze voll von dem ganzen Scheiß hier......."
Dann legte sie das Handy in die Tasche zurück und ging aus dem Ballsaal Richtung Ausgang.
Prollig, dumm, rotzfrech, mehr nicht.
Die Mädchen an der Garderobe stecken belustigt ihre Köpfe zusammen.
Ich strahle und lächle. Ich weiß, dass sie mich für einen Idioten halten. Ich grüße dennoch freundlich.
Wie jedes Jahr. Ich bin kein Idiot, ich war einer, vor mehr als 30 Jahren, war ich ein solcher.
"Da iss er wieda, kommt jedes Jahr zum Ball. Der ist bekloppt, tanzt den Walzer immer ganz allein."
"Der tut aber keinem was", erwiderte ihre Kollegin ebenso leise.
Nein, ich tanze den Walzer nicht allein, meine Damen.
Die Damen irren sich. Ich tanze diesen einen Eröffnungswalzer immer nur mit Annabell.
Jedes Jahr zur Ballzeit.
Ich komme hierhin, warte draußen eine Weile, ich strahle und winke, gehe dann erst in das Foyer und hole einen Prosecco.
Danach tanze ich mit Annabell. Mein Name steht nämlich auf ihrer Tanzkarte. Es ist der einzige Name auf ihrer Tanzkarte.
Und das ist mein Name.
Ja, es klingt ein gewisser Stolz aus meinen Worten. Ich stehe auf ihrer Tanzkarte.
Man sagt, dass Liebe blind und taub macht.
Das stimmt. Seit dieser Ballnacht, in der Annabell starb, bin ich blind und taub. Ich sehe andere Frauen nicht mehr.
Nur Annabell. Und weil hier alles begann, und wir den Kindern noch davon erzählen könnten, kehre ich jedes Jahr hierhin zurück.
Unsere Tochter würde Iphigenie heißen, darauf hätte ich bestanden.
Liebe macht blind und taub. Das weiß ich jetzt.
"Annabell. Darf ich bitten, um diesen einen Tanz ?"
Ich reiche ihr meinen Arm, und führe sie auf die Tanzfläche.
Sie ist schön, anmutig und begnadet, meine Annabell.