Mordreds Tales – Die Tanzkarte

Salsa

PROLOG >>


Ich muss erst dieses Geheimnis lüften, dann erst, dann kann meine Zukunft beginnen.

Ich bemerkte sie nicht.
Hab mir mein Gehirn deswegen zermatert. Ich bemerkte sie einfach nicht.
Erst als es zu spät war.

Jetzt haben wir beide keine Zukunft mehr.
Sie nicht, und ich erst recht nicht.

Sie lag da, auf der Seeterrasse. Sie sah aus wie ein schlafender Engel in ihrem
Ballkleid aus zartem, glänzenden Organza, es war aufwändig bestickt, drapiert.
Es hatte eine Corsagenschnürung im Rücken. Creme. Creme nennt man die Farbe des
Kleides wohl, aber als Mann weiß man das nicht so genau.

Ein Engel, ein Engel, der schläft.

Aber keine Frau die ich kenne, legt sich freiwillig mit so einem Kleid auf die
Seeterrasse. Keine Frau.

Ich lief zu ihr hin, ich sprach sie an, ich nahm ihre Hand, ich tätschelte ihre Wange.
Aber der Engel wollte nur schlafen.

Neben ihr lag eine Tanzkarte. Eine Tanzkarte aus Perlmutt.
So etwas gab es damals in Holland, um 1890......, damals auf der Seeterrasse wußte ich das natürlich noch nicht.

Dieser wunderschöne Engel hatte nur einen einzigen Eintrag in seiner Tanzkarte. Das beruhigte mich irgendwie, auf eine seltsame Arte und Weise beruhigte es mich. War ich doch nicht der einzige Trottel, der diese Frau vorher nicht bemerkte. Den Namen des Herrn konnte ich in der Aufregung nicht entziffern, war er doch in einer alten Schrift geschrieben. Sütterlin. Ich weiß es nicht, als moderner Mann weiß man das nicht so genau.

Dann wurde ich weggestoßen, jemand rief: "Gehen Sie zur Seite, ich bin Arzt!" Es kamen immer mehr Menschen aus dem Ballsaal auf die Seeterrasse hinaus. Immer mehr. Ich wünschte, dieser Engel hätte zu Lebzeiten diese Aufmerksamkeit gehabt. Dann würde sie jetzt vielleicht nicht schlafen, in ihrem Kleid, aus Organza, in creme, auf dieser verdammten Seeterrasse. Mondlicht, Mondlicht stand ihr gut.

Jemand kam und legte eine wärmende Decke um meine Schultern.

"Ihre Begleiterin ist tot. Wir haben alles, wirklich alles versucht, sie ist tot. Es tut uns so leid."

Ich weinte um eine Frau, die ich nicht kenne. Die ich nicht einmal bemerkte, obwohl ich bereits seit 5 Stunden Gast auf diesem Ball war.

Man gab mir die Tanzkarte des Engels. Ich sah sie mir genauer an und habe den einzigen Namen gelesen auf dieser Karte.

Roman Dreyer. Roman Dreyer stand auf der Karte.

Ich bin Roman Dreyer.
Nein, ich war Roman Dreyer.

Ich bin mit ihr gestorben, ich muss erst das Geheimnis lüften um diesen Engel. Erst dann beginnt meine Zukunft.

Mein Anwalt konnte alles für mich klären. Ich kannte diese Frau nicht. Nie vorher habe ich sie gesehen.
Wie mein Name auf ihrer Tanzkarte kam, weiß ich nicht.

***


Ich habe Dich bei meinem Namen gerufen, Du bist mein. Jes. 43.1.

Ich hatte die Anzeige in der Tageszeitung gelesen. Viele Wochen später.

Zur Erinnerung an die Verstorbenen in unserer Stadt, für die es keine Trauerfeier gab, feiern wir einen ökumenischen Gottesdienst.

Wir laden herzlich ein, daran teilzunehmen.


42 Namen von Verstorbenen waren zu lesen.
Menschen, die niemand vermißt.

Mein Engel in Organza stand auch auf dieser Liste. Sie war die einzig Namenlose. Alle anderen hatten wenigstens einen Namen.

Sie war die

unbekannte Frau, ca. 30 Jahre alt.

Es war das erstemal, dass ich einen Trauergottesdienst besuchte.

Ich war Roman Dreyer.
Aber als Mann, weiß man das nicht so genau.

Ich muss erst das Geheimnis lüften, dann kann meine Zukunft beginnen.

Ich bemerkte sie nicht.
Ich habe Augen und kann nicht sehen.
Ich habe Ohren und kann nichts hören.

Erst als Stille war, und alles Licht erloschen ist, liebte ich.

Komm noch einmal zu mir zurück, mein Engel.
Ich bin Dein Mann, und ich weiß es jetzt.

***

„Wir würden gerne den Namen Ihrer Begleiterin erfahren.“

Der Cop nahm sich nicht die Zeit, sich zu setzen und mich mit großen, bösen Augen anzusehen. Er kam in den Raum und fragte nach dem Namen des toten Engels in Organza. Kein „Guten Abend“, kein Smalltalk, kein Sinn für Höflichkeit.

Ich blickte den Cop verwirrt an.

„Ich war nicht in Begleitung“, antwortete ich.

„Verkaufen Sie mich nicht für dumm!“, blaffte der Cop. Er hatte wohl wirklich nicht vor, höflich zu sein. Nun denn …

„Wie meinen?“, fragte ich unschuldsvoll.

„Sie standen doch bei der Toten, als der Arzt kam“, meinte mein Gegenüber mit schlechter Laune. „Wollen Sie mir erzählen, Sie standen bei einer wildfremden Leiche?“

Ich wollte eigentlich nur tanzen gehen. Ich wollte einen schönen Abend haben. Eine Leiche setzte diesem Wunsch ein jähes Ende. Ein toter Engel, der auf der Seeterasse lag. Der krönende Abschluss war dann eine Vernehmung auf der Polizeiwache und ein übellauniger Bulle. Nein, ich wollte mich nicht aus der Ruhe bringen lassen.

„Ich stand bei der Leiche einer mir unbekannten, weiblichen, ungefähr dreißig Jahre alten Person“, warf ich dem Polizisten entgegen. „Was bringt Sie darauf, dass ich die Dame kennen könnte?“

Die Antwort war ein geringschätziger Blick.

„Ich sagte schon, Sie sollen mich nicht für dumm verkaufen.“ Der Cop beugte sich über den Tisch um mir direkt in die Augen sehen. Er senkte seine Stimme und sagte: „Ihr Name steht auf der Tanzkarte der Toten. Warum sollten Sie wohl Ihren Namen auf die Tanzkarte von jemandem schreiben, den Sie gar nicht kennen?“

Ein mittelmäßig begabter Detektiv würde an dieser Stelle schlussfolgern, dass der Cop nicht oft tanzen geht. Aber das wollte ich ihm noch nicht ins Gesicht sagen.

„Bin ich Zeuge oder Verdächtiger?“

„Wie meinen?“, fragte der Cop verblüfft. Mentale Notiz: Unerwartete Fragen bringen den Cop aus dem Konzept.

„Ich wundere mich, dass Sie mich in einem Verhörzimmer befragen. Bin ich also Zeuge oder Verdächtiger?“

Der Beamte lehnte sich betont lässig zurück und ließ eine halbe Minute verstreichen.

„Das werden wir sehen“, sagte er schließlich mit einer Stimme, die die Luft gefrieren lassen könnte. Zumindest hoffte er, dass die Luft gefrieren würde.

„Ich frage nur. Ich möchte gerne wissen, ob ich meinen Anwalt kontaktieren sollte.“

„Wir werden sehen“, meinte der Cop erneut. „Warum stand Ihr Name auf der Tanzkarte?“

Ich lächelte und schüttelte den Kopf.

„Weil ich mit der Dame tanzen wollte. Weil das der Zwecke einer Tanzkarte ist. Mann will mit Frau tanzen und trägt sich auf der Tanzkarte ein. Ich dachte eigentlich, die Karte würde jemandem anders gehören. Einer Brünetten.“

So musste mein Name auf die Karte des Engels gekommen sein. Ich hatte die falsche Tanzkarte erwischt. Das Bedauerliche war, dass es nie zu dem Tanz gekommen war, dass ich den Engel erst bemerkte, als es zu spät war. So unscheinbar dieses wundervolle Geschöpf war, so viel schöner und wunderbarer als die Brünette war sie. Als ist die Frau im Organzakleid auf der Seeterrasse liegen sah, hätte ich die Hälfte meines Lebens gegeben, um die andere Hälfte mit ihr verbringen zu können.

„Also alles nur ein Versehen? Wie heißt diese ...“ Der Cop machte eine „kunstvolle“ Pause, um den Zynismus in seiner Stimme zu betonen „... Brünette?“

„Sie gehen nicht oft tanzen, richtig?“ Nun war es raus.

Der Cop sah mich missmutig an.

„Wie meinen Sie das?“

„Weil Sie Sinn und Zweck einer Tanzkarte nicht verstehen.“

Es schien dem Beamten überhaupt nicht zu gefallen, dass ich ihm Unzulänglichkeiten in seinem Wissen aufzeigte. Er lächelte mich unfreundlich an und lehnte sich zurück.

„Bitte schön! Belehren Sie mich!“

Also gut, wenn es helfen sollte, die Angelegenheit hinter mich zu bringen … Ich lehnte mich ebenfalls zurück, lächelte freundlich, ließ kunstvoll und pathetisch einen Augenblick verrinnen, als überlegte ich, wie man einem Kind etwas erklären sollte, das eigentlich eher für Erwachsene ist. Woher Babys kommen zum Beispiel.

„Sinn einer Tanzkarte ist“, erklärte ich, „einer Dame einen Tanz anzutragen. Damit nicht fünfundzwanzig Herren gleichzeitig um einen Tanz bitten, trägt man auf der Karte ein. Die Dame tanzt dann in der Reihenfolge der Einträge mit den Herren. Es dabei vollkommen unerheblich, ob man die Dame kennt. Es ist der Sinn eines Balls, zu tanzen. Man muss dabei nicht immer mit der eigenen Gattin tanzen, was besonders dann schwierig wäre, wenn man wie ich als Single auf dem Ball auftaucht. Ein Ball eignet sich auch gut, eine Frau kennenzulernen, glauben Sie mir. Versuchen Sie es mal!“

Jetzt sah mich der Cop mit einer Mischung aus Unmut und peinlicher Berührung an. Volltreffer! Kein Ring am Finger, rüdes Auftreten jemandem gegenüber, der dem Offensichtlichen nach mit schönen Frauen umgeben war – die Wahrscheinlichkeit, dass der Cop Single und darüber nicht glücklich war, war nicht gering gewesen. Seine Reaktion bestätigte meinen Verdacht.

Single zu sein hat unbestreitbar seine guten Seiten. Man ist unabhängig, kann tun und lassen, was man will. Auf der anderen Seite enthält das Dasein als Single auch eine gewisse Leere. Und es gibt Menschen, die nicht damit umgehen können, dass ihnen jemand diese Leere in ihrem Leben auf subtile Art aufzeigt. Mein Gegenüber gehörte offenbar zu dieser Gruppe.

„Mein Privatleben steht hier nicht zur Debatte“, meinte der Polizist gereizt.

Ich hob die Hände und zuckte um Verzeihung heischend mit den Schultern.

„Aber ich habe recht, oder?“

Der Cop brummte nur. Möglicherweise war ich an einem Punkt angekommen, an dem ich dieses Schauspiel abkürzen konnte. Ich hatte nicht das unbedingte Bedürfnis, den zweiten und dritten Akt zu erleben.

„Wissen wir schon, woran die Dame gestorben ist?“

Ich fragte absichtlich in der ersten Person Plural und verfehlte mein Ziel keineswegs. Der Cop zog verwirrt die Augenbrauen nach oben.

„Das muss Sie nicht interessieren.“

Die Antwort war kurz und bündig. Der Cop verstand erwartungsgemäß nicht, warum ich mich in die Ermittlungen einbrachte.

Um ehrlich zu sein: Ich verstand es auch nicht. Einerseits war meine Frage ein Schachzug, um die Polizeiwache schnellstmöglich verlassen zu können. Andererseits wollte ich wissen, woran die Frau gestorben war, warum die Frau starb, wer sie war. Sie sollte kein namenloses Gesicht bleiben. Vielleicht brachte mich das meines eigenen Rätsels Lösung näher.

Aber für den Augenblick wollte ich hier raus.

„Dann fasse ich mal zusammen“, fuhr ich deshalb fort. „Das einzige, was mich mit der Toten in Verbindung bringt, ist mein Name auf der Tanzkarte. Ich weiß nicht, wer sie ist und kann Ihnen nicht helfen. Tut mir leid, ich hätte Ihnen gerne geholfen. Niemand sollte ein namenloses Gesicht sein. Aber ich kann Ihnen nicht helfen. Also kann ich jetzt gehen, richtig?“

Ich stand auf und ging zur Tür.

„Setzen Sie sich!“

Ich blieb stehen und drehte mich um.

„Uuund … Warum?“

„Weil wir fertig sind, wenn ich sage, dass wir fertig sind“, sagte der Cop mit einer Stimme, die ihn wohl gefährlich dünkte. In der Tat lies sie mich erschaudern – vor Belustigung. Ich blieb noch eine Weile stehen dann lächelte ein wenig überheblich und setzte mich wieder.

„Nun denn“, sagte ich. „Erzählen Sie! Wie kann ich Ihnen helfen?“

Es mag sein, dass ich an dieser Stelle etwas zu dick aufgetragen hatte. Die Laune des Cops schien sich zusehends zu verschlechtern.

„Ein Geständnis wäre nicht schlecht.“

Diesmal war ich etwas erstaunt, wenngleich ich mit so etwas hätte rechnen müssen.

„Und ...“ Ich legte den Kopf etwas schief. „... was soll ich gestehen?“

Stille legte sich über das Verhörzimmer. Die Beamte wusste wohl nicht wirklich, welches Geständnis er hören wollte.

„Den Mord an Kennedy für den Anfang.“

Das Eis schien gebrochen.

„Das war die CIA“, sagte ich belustigt.

„Warum will jemand mit wildfremden Frauen tanzen?“

„In erster Linie des Tanzes wegen“, antwortete ich. „Der Weg ist das Ziel und da ich mich für einen ganz passablen Tanzanfänger halte, wollte ich mein Glück versuchen. Außerdem bin ich Single. Sagte ich schon, dass man auf einem Ball ganz gut Frauen kennenlernen kann?“

„Sagten Sie schon.“

„Dann verstehen Sie meine Intention vielleicht.“

„War es auch Ihre Intention, mit einer Toten zu tanzen?“

Für einen Augenblick hatte ich gedacht, wir hätten das hinter uns. Ich schüttelte den Kopf, setzte zu einer Antwort an, kam aber nicht dazu, auch nur einen Ton zu sagen. Die Tür öffnete sich und eine hochgewachsene Blondine betrat das Vernehmungszimmer. Noch ein Engel. Der zweite Engel innerhalb von sechzehn Stunden. Nur dass dieser Engel eisig war. Der Nordpol kann nicht so kalt sein wie dieser Engel.

Der eisige Engel sah den Cop an, der bis eben versucht hatte, mich zu verhören.

„Lassen Sie uns bitte allein.“

Ihre Stimme war schön, wunderschön. Eisblumen am Fenster sind wunderschön. Und wie sind kalt. So kalt wie dieser Engel.

Ich beschloss, auf die Kälte der Frau vorerst nicht einzugehen.

„Sind Sie jetzt der gute Cop?“, fragte ich, noch bevor der andere Beamte den Raum verlassen hatte.

„Bitte entschuldigen Sie die etwas ruppige Art meines Kollegen“, sagte die Eisige mit einer verführerischen Süße, welche der Schneekönigin aus Andersens Märchen zur Ehre gereicht hätte.

„Ist Ihr Kollege immer so drauf? Oder nur, wenn er unausgeschlafen und unausgeglichen am Sonntag mit einer Toten zu tun hat?“

Die Eisige lächelte still.

„Nein, manchmal hat er auch schlechte Tage.“

„Ah!“

Die blonde Polizistin schob mir einen Becher Kaffee hin und setzte sich. Sie wartete, bis ich einen Schluck des heißen schwarzen Elixiers genommen hatte.

„Ich fasse kurz zusammen, was ich bisher weiß“, begann die Blondine. „Ihr Name ist Roman Dreyer. Sie wollten tanzen gehen und … stolperten über die tote Frau auf der Terrasse, auf deren Tanzkarte Sie sich eingetragen hatten, ohne dass Sie sie kannten. Das ist der Sinn einer Tanzkarten. In etwa so viel haben Sie meinem Kollegen schon verraten.“

Ich nickte bestätigend und erklärte der Blondine, dass ich wohl auch ihr nicht viel mehr sagen könnte, da ich nicht mehr wüsste.

„Warten wir ab“, sagte die Polizistin lächelnd. „Ich habe Mittel und Wege, Ihnen Informationen zu entlocken. Sie wissen vielleicht mehr, als Ihnen bewusst ist.“

Ihr Lächeln verursachte eine gewisse Unbehaglichkeit in mir.

„Wie meinen Sie das?“

„Was Sie erlebten“, erklärte die Blonde mitfühlend, „war ein schockierendes Erlebnis. Vielleicht hat die Dame in Organza Ihnen ihren Namen gesagt aber Sie verdrängen es, Herr Dreyer. Ich bin möglicherweise in der Lage, diese Verdrängung zu durchbrechen.“

Vielleicht löste das mein Rätsel. Aber wollte ich, dass ausgerechnet diese Person mein Geheimnis, das ich selbst nicht kannte, lüftete? Ich schätzte die Temperatur im Raum auf ungefähr 27 Grad. Etwas zu warm für meinen Geschmack. Aber wenn die Eisige sprach bildete sich förmlich Raureif an den Wänden. Gleichzeitig lag in ihrer Stimme etwas süßes, verführerisches. Etwas, das einen am Ende wohl alles sagen lässt, weil diese Frau es so wünscht.

Nein, ich wollte mich ihr nicht ergeben.

„Wissen Sie schon, womit die Frau vergiftet wurde?“, wagte ich einen Versuch, die Initiative wieder in die Hand zu bekommen.

„Oh!“, meine die Schneekönigin lächelnd. „Niemand sagte bisher, dass sie vergiftet wurde. Woher wissen Sie das?“

Es ist doch so einfach an Informationen zu gelangen.

„Von Ihnen, Gnädigste.“

„Ich kann mich nicht erinnern, so etwas gesagt zu haben.“

Manche Menschen passen einfach nicht auf, was sie sagen. Sie geben einem Auskunft und merken es nicht einmal. Aber ich wollte nicht sofort in die Vollen gehen und der Eisfee auf die Nase binden, welchen Fehler sie gemacht hatte. Sie sollte mir erst mehr sagen. Also log ich ein bisschen.

„Ich glaube, dass der Arzt etwas derartiges sagte. Und ich hörte Sie etwas in der Art sagen, als ich in das Verhörzimmer gebracht wurde.“

„Oh!“, entfuhr es der Eisigen verwundert. Offenbar war diese Erklärung für sie ausreichend. „Sehen Sie, ich wusste doch, dass ich Ihnen auf die Sprünge helfen kann.“

Ich nickte. „Manchmal nimmt man wohl Kleinigkeiten auf, die einem unbedeutend vorkommen, weshalb man sich nicht bewusst erinnert.“

Und daran war mehr Wahres, als ich zugab. Irgendetwas war auf dem Ball passiert. Irgendetwas war seltsam, rätselhaft, unklar. Etwas war an dieser Frau rätselhaft. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie mehr von mir hören wollte als Erinnerungen, die mir nicht mehr bewusst waren. Sollte ich der neuen Kay dieser Schneekönigin werden? Oder hatte sie es auf etwas ganz anderes abgesehen. Spielte sie wirklich den guten Cop oder war sie der böse?

Was hatte Roman Dreyer auf diesem Ball getan? Abgesehen davon, dass er sich in einen Engel in Organza verliebte, der nunmehr tot war? Was hatte er gesehen oder gehört woran er sich nicht mehr erinnerte? Und warum verglich er diese Polizistin mit einem Engel?

Weil sie den Anschein erweckte, so einfach war es. Die Antworten auf die restlichen Fragen blieb mir jedoch verborgen.

„Gibt es sonst noch etwas, woran Sie sich vielleicht erinnern, wenn Sie genau nachdenken?“

Ich strengte meine grauen Zellen an. Nichts. Ich schüttelte den Kopf. Der eiskalte Engel legte skeptisch den Kopf schief.

„Möchten Sie mir vielleicht erklären, wie Ihre Fingerabdrücke auf das Glas der Toten kamen?“

Ja, das wollte ich. Wenn ich es nur gekonnt hätte.

„Sind Sie sicher, dass meine Fingerabdrücke auf dem Glas der Toten sind?“

„Ganz sicher. Auf dem Glas sind Fingerabdrücke von zwei Personen. Von der Toten – es war also offenbar ihr Champagnerglas – und von Ihnen.“

Ein Champagnerglas? Das konnte dann kaum mein Glas gewesen sein. Ich trinke keine Millionärslimonade. Aber auf dem Tisch des Engels stand so ein Glas.

„Ich vermute, ich habe es angefasst und zur Seite gerückt, um an die Tanzkarte zu gelangen.“

„Sie vermuten?“

„Ja. Ich bin nicht sicher. Ich weiß nicht wie viele Menschen Sie schon gesehen haben, die einfach aufhörten zu atmen. Mir macht das eine Gänsehaut und es bringt mich schon ein bisschen aus dem Konzept.“

Auf dem Gesicht der Eisigen machte sich ein zufriedenes Lächeln breit.

„Wie kommen Sie darauf, dass die Tote einfach aufhörte zu atmen?“

Ein kleines Stimmchen in mir riet zur Vorsicht. Eine andere Stimme riet zum Aufbrausen.

„Wie viele Leichen atmen noch?“, fragte ich mürrisch.

„Die wenigsten“, gab der kalte Engel zu. „Aber Sie sagten, die Tote habe einfach aufgehört zu atmen. Der Arzt, der versuchte, die Verstorbene zu reanimieren, sagte aus, dass bei seinem Eintreffen keine Atmung mehr festzustellen war.“

„Und das sagt was aus?“

„Das sagt aus, dass Sie mehr wissen, als Sie zugeben, Herr Dreyer.“

„Inwiefern?“

Die Polizistin fixierte mich mit ihren arktischen Augen.

„Entweder waren Sie länger bei der Dame, als Sie bisher angaben und bemerkten, dass Sie einfach zu atmen aufhörte, oder Sie haben Täterwissen.“

„Täterwissen?“

„Täterwissen. Dem Obduktionsbefund zufolge war die Frau schon ungefähr eine Viertelstunde tot, als Sie Ihren eigenen Angaben und Zeugenaussagen nach auf die Terrasse gingen. Daraus folgere ich, dass Sie eine andere Quelle für Ihre Information haben.“

Sie war wohl doch der böse Cop. Der Groschen fing ganz langsam an zu fallen. Dieses Miststück von einer Schneekönigin versuchte, mir einen Mord anzuhängen.

„Ich denke, ich sollte nichts mehr ohne meinen Anwalt sagen“, informierte ich mein Gegenüber.

Die Eisige lächelte. Sie war offenbar wahrhaft zufrieden mit sich selbst, wähnte mich besiegt.

„Sie müssen nichts sagen. Wir haben genug.“

„Nämlich?“

„Im Blut des Opfer konnten Barbiturate nachgewiesen werden. Im Glas des Opfers auch. Eine Überdosis Barbiturate verursacht eine Atemdepression. Das Opfer bekommt keine Luft mehr, hört einfach auf zu atmen. Genau wie von Ihnen beschrieben.“

Ich riss meine Augen auf. Wollte sie mich damit festnageln? Aber die Eisige war noch nicht fertig.

„Sie waren“, fuhr die Polizistin fort, „der einzige Name auf der Tanzkarte der Toten. Sie waren der einzige Mensch, der Kontakt zu ihr hatte. Wir haben Ihre Fingerabdrücke auf dem Glas des Opfers.“

„Bisher nur Indizien.“

„Bisher“, herrschte die Eisblonde mich an. „Aber wir finden heraus, wie Sie das Phenobarbital in den Champagner des Opfer getan haben und wo Sie es erwarben. Vielleicht erinnern Sie sich im Augenblick wirklich nicht. Aber wir finden es heraus.“

Für einen Moment spürte ich einen Hauch von Panik darüber aufsteigen, dass mir jemand einen Mord unterschieben wollte. Doch der Augenblick währte nur kurz, denn plötzlich dämmerte mir eine Erkenntnis, die den Tod des Engels in Organza aufklären würde. Nun lächelte ich zufrieden und lehnte mich betont lässig zurück. Ich schwieg zunächst und lächelte vor mich hin, bis ich schließlich kichernd den Kopf schüttelte.

„So einfach!“, sagte ich leise.

„Wenn es so einfach ist“, flüsterte die Blonde indem sie sich zu mir hinbeugte, „lassen Sie mich doch daran teilhaben!“

Ich nickte.

„Will ich tun. Eine Kleinigkeit will ich ohne Anwalt sagen, wissend, dass Ihre Kollegen hinter dem Spiegel dort mithören.“

Ich machte eine Pause, um mir der Aufmerksamkeit der Beamten hinter dem Spiegel des Verhörraums sicher zu sein.

„Bitte, fahren Sie fort!“, forderte mich die Eisige auf.

„Gern“, nickte ich. „Woher wissen Sie zum Beispiel, dass MEINE Fingerabdrücke auf dem Glas waren?“

Der eisige Engel sah mich verwirrt an und sagte nichts.

„Ich werde Ihnen gerne meine Fingerabdrücke geben, damit Sie sie mit denen auf dem Glas vergleichen können. Vermutlich sind es wirklich meine, aber der springende Punkt ist, dass mir niemand Fingerabdrücke abnahm. Und den Kaffeebecher hier hat noch niemand untersucht.“

„Das holen wir nach“, versprach die Schneekönigin.

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Offenbar verstehen Sie aber nicht, dass nur jemand, der gesehen hat, wie ich das Glas anfasste, wissen kann, dass es meine Abdrücke sind. ICH folgere daraus, dass Sie am Tatort waren. Und jetzt da ich im Detail darüber nachdenke, erinnere ich mich dunkel, Sie gesehen zu haben. Ich sah Sie durch das Fenster, als der Arzt sich um den toten Engel kümmerte.“

Ich ließ die Worte kurz wirken. Die Augen der Eisige weiteten sich unmerklich.

„Es gibt aber einen weiteren, viel interessanteren Punkt.“

Ich legte einen Hauch von Arroganz in meine Stimme, gerade so viel, dass es mir einen Anschein von Überlegenheit gab. Die blonde Polizistin sah verunsichert nach links und rechts, als vermutete sie dort unverhoffte Zeugen.

„Ich bin Chemiker“, fuhr ich erklärend fort. „Ich weiß daher, dass es einfach ist, Barbiturate nachzuweisen. Es ist aber unmöglich mit diesem Nachweis einzelne Barbiturate zu unterscheiden. Für eine Chromatographie oder Spektrometrie war die Zeit bis zu diesem Augenblick zu kurz. Wenn SIE also davon sprechen, dem Opfer wäre Phenobarbital verabreicht worden, offenbaren sie was? Richtig: Täterwissen.“

Im Gesicht des eisigen Engel zeichnete sich in einem schleichenden Prozess Erkenntnis ab. Die Erkenntnis, einen Fehler gemacht zu haben. Es dauerte keine Minute, bis sich die Tür zum Verhörraum öffnete. Der Cop, der mich zu Anfang verhört hatte, trat ein und ging geradewegs auf seine blonde Kollegin zu. Handschellen klickten. Als der Cop mit seiner eisigen Kollegin die Tür erreichte drehte er sich noch einmal zu mir um und nickte anerkennend.

„Gute Arbeit“, brummte er und verließ den Raum.

***

Mein Anwalt konnte alles für mich klären. Ich verbrachte keine halbe Stunde mehr auf der Wache. Man fuhr mich sogar nachhause. Zwei Tage später erhielt ich einen Brief vom Polizeichef persönlich, in dem er sich bei mir für die Unannehmlichkeiten entschuldigte und mich gleichzeitig bat, der Polizei als Sachverständiger zur Seite zu stehen. Gegen ein gutes Honorar natürlich.

Die Polizistin, die meinen Engel in Organza vergiftet hatte, konnte nicht dazu beitragen, aufzuklären, wer die Tote war. Sie kannte sie nicht. Man diagnostizierte bei ihr eine multiple Persönlichkeitsstörung. Niemand konnte genau sagen, warum sie meinen Engel umgebracht hatte. Sicher war nur, dass sie es getan hatte.

Und nun? Nun stehe ich vor dem Bild einer unbekannten Frau im Alter von ungefähr 30 Jahre.

Eloise. Mein Engel darf nicht namenlos bleiben. Ich nenne meinen Engel Eloise.