DIE GÖTTER

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Des Barden Geschichte – eine Nahtoderfahrung

Die meisten Götter in der Unterwelt sind ganz normale und ziemlich ruhige Götter. Hypnos, der Schlafgott, ist manchmal ein bisschen aufgeregt und hibbelig, wenn er unter irgendwelchem Stress steht, aber er lächelt gerne. Sein Bruder Thanatos, der Tod, grummelt viel. „So viel zu tun!“, ist sein Lieblingssatz. Aber er meint es nicht ernst. Und die großen Chefs in der Unterwelt, Hades und Hel, haben vollkommen die Ruhe weg. Hel hat sich zurückgezogen und Hades tritt eher als Manager auf. Er stellt die Regeln auf, hält ein Auge darauf, dass die Regeln eingehalten werden und zieht vor allem im Hintergrund die Fäden.

Hades ist ein geschäftstüchtiger Mensch. Gott. Ein geschäftstüchtiger Gott natürlich. Er sah voraus, dass sich die religiöse Welt verändern wird und reagierte rechtzeitig darauf. Er beauftragte Thanatos damit, eine Art Erstaufnahmestelle für Verstorbene aller Glaubensrichtungen aufzubauen, von der aus sie in ihre jeweiligen Nachwelten verbracht werden. Hades vermietete mir sogar einen Teil der Unterwelt, um dort eine Dependance eröffnen zu können. Das ist die Gegend, die ihr Hölle nennt.

Die meisten Götter in der Unterwelt sind ziemlich ruhige Götter und sehr geduldig. Lediglich Persephone hat ein eher aufbrausendes Temperament. Besonders wenn Hades mal wieder mit seinen Brüdern und Neffen einen draufgemacht hat. Hades erträgt auch diese Ausbrüche mit viel, viel Geduld. Aber auch diese hat Grenzen. Grenzen, die man besser nicht überschreitet.

Es war ein schöner Sommertag in Süditalien und ich bekam nicht viel davon mit. Persephone hatte Geburtstag. Dreißigtausend Sommer zählte sie nun, aber ich bitte euch, liebe Menschen, sprecht sie nicht auf ihr Alter an. Auch wenn sie noch aussieht, als wäre sie gerade erst fünfundzwanzig, ist sie trotzdem eine Frau und ihr wisst ja, wie empfindlich Frauen in Bezug auf ihr Alter sein können. Selbst ich zog es vor, ihr einfach nur alles Gute zu wünschen und einen Flakon Chanel No. 5 zu schwenken. Und Schweizer Schokolade. Persephone steht auf Schweizer Schokolade.

Als Gott bin ich eigentlich eine Art VIP und kann mich in allen göttlichen Gefilden frei bewegen. Ich könnte mit einem „Plopp!“ auf Persephones Türschwelle erscheinen. Oder direkt im Wohnzimmer. Oder im Schlafge… Wie auch immer. Es wäre natürlich unhöflich, einfach so ohne Einladung in den privaten Räumlichkeiten eines anderen Gottes, erst recht einer Dame, aufzutauchen. Die Türschwelle wäre natürlich möglich gewesen.

Aber ich halte nicht viel von VIP-Vorteilen. Wenn ich privat reise, nehme ich die regulären Wege. Charon der Fährmann muss auch von etwas leben und so ist es nur recht und billig, wenn ich ihn nicht um seinen Obolus bringe.

Ich stand also am Anleger, auf die Fähre wartend, eine Zigarette rauchend. Laut Fahrplan hatte ich noch eine Viertelstunde Zeit und darum holte ich ein Buch aus dem Rucksack, um mir die Wartezeit zu vertreiben.

„Homer?“, erklang eine fragende Männerstimme neben mir.

Ich blickte verwirrt auf.

„Wer ist Homer?“, fragte ich, ohne die Fluffe von den Lippen zu nehmen.

„Na der Autor. Der dein Buch geschrieben hat.“

Mein Buch? Kein einzelner Mensch hat mein Buch geschrieben. Ich sah den Mann neben mir weiter mit Verwirrung im Blick an. Er zeigte auf das Buch in meiner Hand.

„Homer“, gab ich zurück und betonte korrekt die zweite Silbe. „Antiker griechischer Dichter, hat nichts mit gelben Zeichentrickfiguren zu tun.“

Ich schnippte Asche von meiner Zigarette und vertiefte mich wieder in die Odyssee.

„Rauchen ist aber nicht gesund“, redete der Mann weiter.

„Hmmm.“

Ich wollte einfach in Ruhe lesen.

„Wie bist du eigentlich gestorben?“

Der Mann wollte einfach keine Ruhe geben.

„Bin nur zu Besuch hier“, antwortete ich knapp und wandte mich halb dem Mann zu, der so impertinent auf einem Gespräch mit mir beharrte.

„Ich auch“, sagte der Mann fröhlich. Ich bezweifelte es. „Ich habe morgen einen Gig, weißt du? Ich bin Musiker.“

„Aha.“

„Ja, so ein richtiger Barde sozusagen.“

Und ein geschwätziger Barde war er. Ich erinnere mich nicht mehr, was mir dieser Mann so alles erzählte, ich hatte nur mit einem halben Ohr hingehört. Irgendwann wurde ich durch das Geräusch eines Schiffshorns erlöst. Charon geht mit der Zeit. Er hat jetzt einen Kahn mit unterweltfreundlichem Elektroantrieb. Aber er hat immer noch seine alte schwarze Kutte. Ein bisschen Tradition muss sein und außerdem ist die Kluft irgendwie stylisch.

Ich nahm meinen Rucksack, drückte Charon seine Münze in die Hand und klopfte dem Fährmann zur Begrüßung auf die Schulter. Dann stellte ich mich hinter ihm an die Reling, um während der Überfahrt einen Plausch halten zu können. Auch wenn Charon immer als wortkarg beschrieben wird, ist er es nicht. Seine Fahrgäste reden nur nie mit ihm. Sind zu sehr mit sich selbst und dem Unglück ihres Verscheidens beschäftigt. Ich verstehe das irgendwie. Es ist schon ein tiefer Schnitt, so einfach aus dem Reich der Lebenden gerissen zu werden. Selbst für die Alten.

Der Barde schien nicht so introvertiert zu sein. Im Gegenteil. Er hielt sich für ziemlich bedeutsam und als der Fährmann wortlos seine Hand aufhielt, um seinen Obolus zu empfangen, sah der Barde ihn genauso wortlos an. Wort- und verständnislos.

„Der Obolus“, informierte ich den Sänger. „Der Fährmann muss bezahlt werden. Rück 'nen Euro rüber, Barde!“

Der Gesangsstar sah mich an, blickte zum Fährmann, wandte sich wieder mir und fing an zu singen: „Don’t pay the ferryman! Don’t even fix a price! Don’t…“

„Halt die Klappe und rück die Münze rüber!“, unterbrach ich. „Sonst stehen wir noch hier, wenn mein Filius Geburtstag hat.“

„Hä?“, staunte der Barde, der nicht verstand, wovon ich sprach. Wie sollte er auch wissen, dass mein Junge ausgerechnet Weihnachten Geburtstag hat. Ich setzte einen strengen Blick auf, schnippte mit dem Finger und deutete auf die leere Hand des Fährmanns. Widerstrebend legte der Barde eine Münze in die Hand, die prompt verschwand. Endlich. War das nun so schwer?

Die Fahrt war ruhig. Der Acheron ist ein stilles Wasser. Charon und ich tauschten ein paar alte Anekdoten aus. Über Herakles, als er mit Kerberos Gassi ging. Über Theseus, der mit seinem alten Jugendfreund Peirithoos Persephone entführen wollte. Der alte Hades war darüber nicht erbaut gewesen. Charon berichtete mir noch, dass Eurydike abgehauen sein sollte. Ein junger Mann wollte ein Nudelholz verstecken und die Nymphe hatte es gefunden. Nach einer knappen Stunde näherten wir uns dem jenseitigen Ufer und Charon griff zu seinem Funkgerät. Der alte Fährmann geht mit der Zeit, aber das sagte ich schon. Leider ist er der Einzige in der Unterwelt, der auf moderne Technik setzt. Nein, nicht ganz. Thanatos soll einen Auszubildenden haben, der ein paar Neuerungen eingeführt hat. Auf den Funkruf antwortete trotzdem niemand.

„Ship to shore, do you read me anymore?“, schmetterte der Barde. Charon fand es nicht lustig.

Ich sah den Fährmann stumm an, schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. Er würde ja gleich Ruhe haben und zurückbringen musste er den Sänger ja nicht. Wer einmal in der Unterwelt ist, bleibt auch dort. Die Ausnahmen kann man an einer Hand abzählen. Charon lächelte und nickte wissend. Er wäre die Nervensäge gleich los. Thanatos musste ihn dann ertragen oder wer immer im Eingangsbereich saß. Wir hatten ja keine Ahnung…

Die Fähre legte an und leerte sich. Das heißt, der Barde und ich gingen von Bord.

„Bis übermorgen!“, rief ich Charon zu.

„Bis nachher!“, rief der Sänger. „Fahren Sie nicht ohne mich weg, ja?“

Der Fährmann zuckte die Schultern. Ich lächelte, zündete mir etwas in Papier gerollten Tabak an und setze mich auf einen Stein. Persephone wollte mich abholen, aber ich war etwas früh dran. Ein junger Mann mit langem, weißem Haar und schwarzem Ledermantel kam auf mich zu.

„Guten Tag, Herr…“, grüßte der Junge.

Ich blickte auf.

„Du musst der Neue bei Thanatos sein“, sagte ich freundlich.

„Der Neue? Woher…“

„Ich kenne den alten Knaben. Hab ihn lange nicht gesehen, aber ich kenne auch all seine Mitarbeiter. Hang Po lehrt unbewaffneten Nahkampf und Philosophie, Björn Wulffson den Kampf mit Waffen. Wie heißt Du, Junge?“

„Heiko“, antwortete der junge Mann.

„Du suchst den dort“, informierte ich Thanatos‘ Auszubildenden und wies mit dem Daumen nach links auf den Barden.

Heiko ging auf den Barden zu und stellte sich vor, wie es die Form erfordert. Der Sänger aber meinte, er würde nicht lange bleiben. Er würde mit der nächsten Fähre zurückfahren. Der junge Heiko erklärte in ruhigem Ton, dass dies nicht möglich sei. Wer einmal in der Unterwelt war… Vorschriften sind Vorschriften.

„Aber ich habe heute Abend einen Gig! Und meine Frau wartet auf mich. Wir haben Hochzeitstag.“

Der Barde zog ein Foto aus der Tasche.

„Schauen Sie!“, sagte der Sänger. „Das ist sie. Ist sie nicht toll? Hach… I’ve been missing you…“

Ich hoffte inständig für Thanatos‘ Leute, dass der Barde nicht für jede Situation ein Lied auf Lager hatte. Aber ich fürchtete, dass es doch so sei. Aber ich zumindest wäre gleich aus dem Schneider, wusste ich. Denn ich sah einen offenen Einspänner auf den Kay zukommen und in ihm saß das Geburtstagskind.

„Gott!“, rief Persephone fröhlich, sprang von der Kutsche und eilte mir entgegen.

„Gott?“, fragte der Barde erstaunt.

„Oh! Gott!“, sagte Heiko. „Jetzt wird mir einiges klar.“

Persephone nahm mich in den Arm und drückte mir einen dicken, feuchten Schmatz auf die Wange.

„Alles Gute zum Geburtstag!“, wünschte ich ihr. „Schönes Kleid!“

Persephone strahlte.

„Ja, nicht wahr? Mein Göttergatte hat es gar nicht bemerkt. Mein neues Kleid.“

Persephone trat einen Schritt zurück und drehte sich im Kreis. Ihr langes rotes Samtkleid bauschte sich im Wind der Unterwelt auf.

„Wow!“, staunte der Barde und begann erneut zu singen: „Lady in reeeeed… is dancing with me…“

Ich ließ den Kopf sinken. Würde es gar kein Ende nehmen? Persephone sah mich verwirrt an.

„Frag nicht“, murmelte ich. „Lass uns verschwinden.“

Der Barde schmetterte weiter sein Lied von der Frau in rot. Mit genug Schmalz, dass mit damit genug Brot hätte bestreichen können, um fünftausend Menschen zu speisen. Mir begann der Schädel zu dröhnen. Doch Rettung nahte.

„GENUG!“, dröhnte eine tiefe Stimme durch die Unterwelt. „Wenn der nicht sofort aufhört, hier rumzuplärren, knallt’s!“

Es machte „Pluff!“ und der Herr der Unterwelt stand am Fähranleger.

„Wer ist diese Knalltüte?“, fragte Hades den jungen Auszubildenden von Thanatos. „Was macht der hier? Warum bringst Du ihn nicht einfach weg, Junge?“

Heiko setzte zu einer Erklärung an aber ich drängte mich dazwischen.

„Hades, alter Freund!“, rief ich und umarmte den Gott der Unterwelt brüderlich. „Sag mal, alter Knabe, willst du den da wirklich hier unten behalten?“

Hades sah mich an, dann den Sängerknaben.

„Komm schon, Orpheus hast du auch gehen lassen. Und der konnte singen. Du bist der Chef hier, du machst die Regeln.“

Hades sah den Barden von oben bis unten an. Der öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder, als er Hades‘ zusammengekniffene Augen sah.

„Pass auf, Kleiner!“, grummelte Hades den Barden an. „Du steigst jetzt auf die Fähre und verpisst dich! Und komm nicht auf die Idee, hier noch einmal aufzutauchen! Habe ich mich klar ausgedrückt?“

Hades Gesicht war finster wie die Nacht und seine Augen blitzten wie Zeus‘ Donnerkeile. Das erste Mal, seit ich ihm begegnet war, tat der Barde etwas Intelligentes. Er nahm die Beine in die Hand, rannte auf die Fähre und ward nie mehr in der Unterwelt gesehen.

„Gibt’s das?“, meckerte Hades. „Baggert einfach meine Frau an! Das darf nur ich! Und du“, fügte er an mich gewandt hinzu, „weil ich weiß, dass du’s nur nett meinst. Komm, der Kuchen wartet.“

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