ein Sänger, der Orpheus ward genannt.
Er war der Eurydike angetraut,
wollt‘ aus dem Hades sie holen, doch hat’s versaut.
Die Dame blieb in der Unterwelt,
doch eines Tages kam ein Held,
der eine Kleinigkeit ihr hatte mitgebracht,
weshalb ein jeder über Hades nun lacht.
Jede Geschichte hat einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende. Es liegt in der Natur der Dinge, dass das, was einen Anfang und ein Ende hat, zwangsläufig auch einen Mittelteil haben muss, der sich, so kurz er auch im Einzelfall ist, irgendwo zwischen Anfang und Ende befindet. Er ist nie vor dem Anfang und nie hinter dem Ende. Eine Straße hat ihren Anfang dort, wo sie von einer anderen Straße abzweigt (oder dort, wo der Anfang willkürlich definiert ist) und ihr Ende an der Einmündung in eine dritte Straße (oder an einem willkürlich definierten Punkt). Dazwischen ist der Mittelteil. Genau so ist es auch mit Geschichte.
Der Anfang dieser Geschichte ist schnell erzählt. Vor Äonen lebte in Thrakien ein König namens Orpheus. Orpheus war der Sohn Apolls und ein begnadeter Sänger. Selbst Diterios, der Erste Sprecher der Jury von Hellas sucht megas asteri – grob übersetzt: Hella sucht 'nen Megastern (oder –star) – war über alle Maßen von Orpheus‘ Sangeskünsten begeistert und überschüttete ihn mit Lob. Später wurde er jedoch aufgrund von Gerüchten, er hätte einen professionellen musikalischen Hintergrund, vom Wettbewerb ausgeschlossen.
Orpheus war verheiratet. Seine von ihm über alles geliebte Gattin war eine Nymphe namens Eurydike. In ihrer Anmut zog sie nicht nur die Blicke des Orpheus auf. Und so begab es sich, dass Aristaios, wie Orpheus ein Sohn Apolls, seine Begierde gegen Eurydike mit Gewalt befriedigen wollte. Eurydike floh, doch ward sie von einer Schlange gebissen und musste mit Thanatos gehen.
Orpheus, über alle Maße betrübt über den Verlust seiner Gattin, beschloss, sie wieder aus der Unterwelt ans Licht der Sonne zu holen. Hades gewährte ihm die Bitte unter der Bedingung, dass er auf dem Weg aus der Unterwelt sich nicht nach ihr umschauen dürfe. Natürlich tat er es doch, weshalb Eurydike immer noch in der Unterwelt weilt. Voll Gram über die Blödheit ihres Gatten schmollte Eurydike ein Jahrhundert in Hades‘ Reich, doch fügte sie sich letztlich in ihr Schicksal und wurde gar des Unterweltfürsten Geliebte. Gleichwohl sehnte sie sich danach, einmal noch die Wärme der Sommersonne zu spüren, die Nässe des Regens, die Kühle der Nacht. Einmal noch wollte sie die Sterne sehen, deren silbernes Funkeln in der Nacht die Seeleute zum sicheren Hafen geleitet.
Hades erlaubte nicht, dass sie die Unterwelt verlässt. Niemand – mit Ausnahme des Herakles, des Sisiphos und Eurydikes Gatten Orpheus selbst – hatte das dunkle Reich je wieder verlassen. Auch Eurydike war es verwehrt. Nicht, weil es Hades‘ Wille sondern weil es Gesetz war. Doch begab es sich als die Menschen das Jahr des Herren 1998 schrieben, dass ein junger Mann in die Unterwelt herabstieg und Eurydike das Werkzeug ihrer Befreiung brachte. Eigentlich war er es nur leid, nach einer milchdurchzechten Nacht von seiner Verlobten mit dem Nudelholz empfangen zu werden, weshalb er beschloss, diese grausame Waffe eifersüchtigen Wahnsinns zu verstecken. Menschen – besonders junge Menschen – bedenken leider (für Eurydike wiederum zum Glück) nicht alle Folgen ihres Handelns. So übersah Heiko die Kleinigkeit, dass kein Sterblicher die Unterwelt wieder verlassen darf. Und natürlich rechnete er auch nicht damit, dass Hades‘ Geliebte das Nudelholz finden würde. Die Moiren wiederum haben zeitweilig einen recht seltsamen Humor. Und nicht immer verstehen sie sich gut mit Hades.
Es war Sonntag und in Straßburg schien die Sonne. Die Thermometer kletterten auf frühlingshafte 21,4 Grad Celsius. Scharen von Vögeln zogen über den kobaltblauen Himmel. Von alldem bekam Eurydike nichts mit. Missmutig saß sie am Ufer des Styx. Nach achteinhalb Jahrtausenden in der Unterwelt hatte sie sich an den Gedanken gewöhnt, nie wieder das Kobaltblau des Himmels zu sehen. Achttausendfünfhundert Jahre – so lange war sie inzwischen mit Hades, dem Gott der Unterwelt (mit DEM Gott der Unterwelt, wie Hades selbst gerne betonte) zusammen. Es war kein schlechtes Arrangement, doch hatte auch diese Beziehung Tiefen. Eine Tiefe war Persephone, Hades‘ Gattin. Eurydike hatte nie vor, ihr den Gatten zu stehlen. Sie war zufrieden damit, die Geliebte zu sein. Persephone und Eurydike hatten auch gemeinsam schöne Zeiten erlebt. Zum Beispiel hatten sie viel Spaß, als sie Hephaistos überredeten, heimlich das Schloss der Tür zur Grotte des Schlafgottes auszuwechseln. In letzter Zeit ging ihr die Dame jedoch gehörig auf den Sandalenriemen. Es war, als hätte Persephone eine Midlifecrisis. Als steckte sie mitten in der Menopause und ihre Hormone spielten verrückt. Vielleicht hatte sie aber auch nur ihre Tage.
Eurydike hatte sich sogar damit arrangiert, dass Hades, Gott der er nun einmal war, auch andere Geliebte hatte. Was sie aber richtig auf die Palme gebracht hätte, gäbe es solche in der Unterwelt, waren die göttlichen Herrenabende. Die Kerle veranstalteten einen Heidenlärm – die Nymphe war froh, nicht direkt neben Hypnos‘ Grotte, in der die Abende meist stattfanden, zu wohnen – und irgendwann kam Hades dann endlich heim, voll wie eine Feldhaubitze (die beiden Frauen in Hades‘ Heim hätten dabei zu gerne gewusst, was eine Feldhaubitze eigentlich ist), das weintrunkene Gesicht dunkelrot wie Dionysos‘ Trauben, torkelnd, gegen sämtliche Möbel rennend, wobei er die am schlechtesten erreichbaren Ecken mindesten viermal rammte, als wolle er zeigen, wie treffsicher er trotz Vollrausches noch war, dabei vom nicht weniger berauschten Zeus unter- und gestützt, der ihn ins traute Heim brachte und oft genug irgendwo auf dem Boden liegen blieb, weil er den Weg zurück nicht mehr fand und Eurydike hatte hinterher das Vergnügen, die Speise, die die Herren Götter während ihres Gelages zu sich genommen hatten, wieder aufzuwischen. So allmählich hatte sie die Nase voll.
Doch sollte der Tag des Widerstands und des Aufbegehrens der Gattin und der Geliebten Hades‘ nicht mehr fern sein. Es begab sich, dass an eben jenem in Straßburg sonnigen Frühlingssonntag nur wenige Schritte von Eurydike entfernt Charon seine Fähre am diesseitigen Ufer des Styx festmachte und ein stattlicher junger Mann die Unterwelt betrat. Er hielt etwas in der Hand, eine Waffe womöglich. Eine kleine Keule? Ein hölzerner Knüttel? Die Nymphe sah die jugendlichen Helden – ein Held musste er sein, wenn er aus freiem Willen die Unterwelt betrat – an und lauschte angestrengt den Worten, die dieser mir dem Fährmann wechselte.
„Wann fahrt Ihr zurück?“, fragte der Junge, der kaum mehr als zwanzig, vielleicht 23 Sommer gesehen haben konnte.
Der Fährmann grinste. Er grinste immer. Mangels Fleisch an seinem Körper hatte er keine Wahl. Charon hob seine Hand und wedelte mit einem knochigen Finger. „Es tut mir leid, junger Herr“, dröhnte seine tiefe Stimme dem Helden entgegen, „aber für diese Fähre gibt es nur One-Way-Tickets. Ich würde Euch gerne mitnehmen, wenn ich die nächsten Fahrgäste vom irdischen Ufer des Flusses abholen, aber Vorschrift ist Vorschrift. Ihr könnt es in meinen Geschäftsbedingungen nachlesen, die am jenseitigen Steg deutlich lesbar angebracht sind.“
„Hmmm...“, brummte der Jüngling. „Absolut keine Chance? Ich kann bezahlen. Ich würde auch rudern.“
Charon schüttelte seinen bleichen Schädel. „Ich mache die Regeln nicht, ich führe sie nur aus. Die Stelle als Fährmann ist auch nicht vakant. Ihr seid jung. Wenn Ihr Arbeit sucht, junger Mann, seht Euch um. Es gibt genug, wobei Eure starke Hand hilfreich sein kann.“
Der Junge kratzte sich am Hinterkopf. „Schade. Ich wollte eigentlich nur das hier“ – er hobt die eigentümlich Waffe – „loswerden. Vielleicht hätte ich sie einfach Euch mitgeben sollen, Fährmann.“
Der jugendliche Held warf noch einen Blick auf das hölzerne Ding in seiner Faust und steckte es schließlich zwischen lose Steine, die direkt neben der Anlegestelle aufgetürmt waren. Er nickte dem Fährmann noch einmal dankend zu, wandte sich um, gab Cerberos ein Leckerli und verschwand in der Unterwelt. Charon lächelte wissend und ein wenig traurig (was man ihm nicht ansah) und flüsterte: „Du hättest mir das Ding geben können, Junge.“
Als der junge Mann fort war, erhob sich Eurydike. Sie wollte sich jene Waffe, die der junge Held offensichtlich fürchtete ansehen. Vorsichtig legte sie ihre Hand um den Griff und zog. Die Waffe steckte fest. Eurydike zog stärker und bekam das Holz schließlich mit einem Ruck frei. Von ihrem Schwung getragen fuhr der Nymphe Hand in die Höhe und reckte das Holz, das im Schein der Laterne, die am Bug der Fähre Charons leuchtete, einen überirdischen Glanz erhielt, zur unterweltlichen Decke hin. Vorsichtig wog Eurydike das Holz in ihrer Hand, spürte das Gewicht. Es fühlte sich gut an, fast wie die Keule des Herakles, die neu geschaffen worden war, verkleinert für die Hand einer Frau. Zuversicht durchwogte die Nymphe. Hades würde ein Wunder erleben, wenn er heute vom Herrenabend käme.
Ein paar Schritte entfernt lachte Atropos die Unabwendbare leise ihren Moirenschwestern zu. Sie war bei dem jungen Mann, als er sich in die Unterwelt aufmachte, hatte ihm diesen Weg eingegeben. Endlich würde Hades dafür büßen, dass er ...Nun, es gab genug, wofür er büßen konnte. Atropos wollte sich nicht in Details verlieren.
Der Abend zog sich in die Länge. Für die kurze Zeit einer Stunde – wenn man achteinhalb Jahrtausende in der Unterwelt verbringt ist eine Stunde eine verdammt kurze Zeit – war Eurydike versucht, sich schlafen zu legen. Die Versuchung war stark, doch der gerechte Zorn der Eurydike war stärker. So saß sie zusammen mit Persephone am Küchentisch, den Thor einst mit einer Streitaxt aus einer schwedischen Kiefer geschnitzt hatte, und spielte Halma, als sie schließlich grölende Männerstimmen hörte. Zeus‘ Bass war unverkennbar, Hades‘ Lachen schien die gesamte Unterwelt zu erfüllen. Dazwischen quiekte immer wieder das Falsett des Hypnos. Persephone verdrehte die Augen und murmelte etwas in der Art, auch noch diese Schlafmütze ertragen zu müssen, warum ausgerechnet der Gott des Schlafes solch muntere Gesellschaften geben musste und ob er nicht irgendjemandem Schlaf in die Augen streuen sollte.
Ein lautes Krachen ertönte vom Flur. Die Nymphe nickte bedächtig, stand auf und ergriff zornig zusammengekniffenen Auges die kleine heraklische Waffe für die Frau. Stundenlang hatte sie zusammen mit Persephone gerätselt, wie wohl der Name diese martialischen Artefakts der Gewalt sei. Die Keule hatte zwei Griffe, womöglich diente der zweite dazu, im Kampfe blitzschnell umgreifen zu können. Der dicke Körper der Waffe drehte sich. Mann konnte sie wunderbar rollen. Frau auch. Der Sinn dessen erschloss beiden Frauen zunächst nicht, bis die Nymphe auf den Gedanken kam, ein paar Rückenübungen zu vollführen. Sie ging auf die Knie, stützte sich auf die Griffe und rollte die Keule ihre eigenen Rücken streckend nach vorn. Dann zog sie die Holzrolle wieder zurück. Vor, zurück, vor, zurück ... Sie wettete zwei Golddrachmen, dass sie am nächsten Morgen Muskelkater haben würde. Und sie hatte endlich einen Namen für die Waffe: die Rollkeule.
Mit ihrer Rollkeule in der Hand stürmte Eurydike auf den Flur. Sie blieb stehen, als sie sah, was geschehen war, ihre zornig zusammengekniffenen Augen weiteten sich in wilder Raserei. Ihr Lieblingssandalenschrank war umgefallen! Ausgerechnet der mit den Schuhe von Guccos! Hypnos, der Trottel, lag unter dem Schrank, schüttelte benommen den Kopf, der als einziges hervor lugte und begann hemmungslos, quietschend zu lachen.
„WAS FÄLLT EUCH EIN?!?!“, schrie die Nymphe.
Hades verschluckte sich an dem Gelächter, das er gerade anstimmen wollte. Zeus, der im Begriff war, den Schrank vom immer noch hemmungslos quietschend lachenden Gott des Schlafes zu heben, hielt inne und sah die Nymphe mit ihrer Rollkeule an, die bedrohlicher als eine nemeische Löwin vor den Männern stand. Zeus, der plötzlichen Gefahr gewahr und auf einen Schlag ernüchtert, griff an seine Seite.
„Verdammt!“, fluchte der Göttervater. „Immer wenn man einen Blitz braucht, hat man keinen dabei.“
Eurydikes Augen blitzten. „WAGE NICHT MAL DEN GEDANKEN AN IRGENDEINE DUMMHEIT!“, blaffte sie den perplexen Chef aller griechischen Götter an. „Göttervater oder nicht“, fuhr sie mit gesenkter Stimme, ihre Augen nur zwei Finger breit von Zeus Gesicht entfernt fort, „Du nimmst jetzt diese quietschende Trantüte von einem Gott“ – Eurydike zeigte auf Hypnos, der sich vor Lachen nicht einkriegte – „und verschwindest!“
Zeus, in seinem immensen Stolz verletzt hub an, Eurydike zu widersprechen. Wie sie wagen könne, ihm, dem Gott aller Götter, dem Topobermotz des Olymp, dem Vater von Göttern und Helden Befehle zu erteilen. Als er jedoch sah, wie die Nymphe ruhig und langsam mit zornumwölkter Stirn und einem derart wütenden Blick, dass sie sogar Hera darin übertraf, die Rollkeule hob, stelle er flinken Fingers den Sandalenschrank wieder auf, griffe Hypnos am Kragen und suchte das Weite. Es gibt nichts in der Unterwelt, das sich mit dem Zorn einer Frau messen kann, die ein rundes rotierendes Holzding mit zwei Griffen schwingt.
Der Herr der Unterwelt sah auf seine wütende Geliebte, blickt seinem fliehenden Bruder hinterher, dachte kurz ‚Feigling! ‘ und lächelt wieder Eurydike an.
„Süße!“, säuselte er etwas schief. „Ich…“
PAFF! Eurydikes Rollkeule landete mitten zwischen seinen Augen. „NENN MICH NICHT SÜSSE!“, kreischte die Nymphe. Sie packte Hades am Schlafittchen, zog ihn auf Augenhöhe herunter und knurrte: „DU! DU NACH SCHWEFEL STINKENDER SOHN EINES BLÖKENDES SCHAFES!“
„Aber Liebes …“
TOCK! Hades taumelte unter einem zweiten Schlag mit der Rollkeule rückwärts. „IHR KERLE LÄRMT RUM, BESAUFT EUCH UND ICH DARF DANN HINTER DIR AUFWISCHEN!“, schrie Eurydike.
Hades wusste nicht recht, wie ihm geschah. Um Hilfe heischend sah er sein Eheweib an aber Persephone lehnte nur eisigen Blickes im Türrahmen der Küche. „Süßeste aller Nymphen …“, startete Hades einen neuen Versuch und lächelte Eurydike schief an. BOING! Die Rollkeule traf ein drittes Mal seinen Schädel.
„Ich kann mit euren Gelagen leben“, fuhr die Nymphe Hades an, „aber ICH HABE KEINE LUST MEHR, STÄNDIG HINTER DIR ORDNUNG ZU MACHEN!“
Der Herr der Unterwelt streckte besänftigend seine Hand aus. Die Nymphe schlug sie zur Seite und gab Hades einen Schubs, der ihn erneut gegen den Schuhschrank taumeln ließ. „JETZT SIEH DIR DAS AN!“, schrie sie. „MEINE SCHUHE! MEINE GUCCOS-SCHUHE!“
Das letzte, was Hades an diesem Abend sah, war die Rollkeule.
Eine Geschichte hat einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende. Für Hades hatte diese Geschichte ein Ende mit Schrecken. Die furienhafte, wilde Wut seiner Geliebten Eurydike hatte er nicht erwartet. Hades verstand nicht, was passiert war. Vor allem verstand er nicht, woher diese schreckliche Waffe kam, mit der die Nymphe ihn verprügelt hatte. Aber Hades wollte für die Zukunft kein Risiko eingehen. So geschah es, dass Orpheus‘ geliebte Gattin doch noch aus der Unterwelt befreit wurde. Nur der arme Orpheus hatte nichts mehr davon.