DIE GÖTTER

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Büroalltag

Für einen jungen Gott ist es erste Bürgerpflicht, Erfahrungen zu sammeln. Erfahrungen zu sammeln heißt, dass der junge Gott neben diversen Auslandsaufenthalten auch das eine oder andere Berufspraktikum absolviert. Eines dieser Praktika führte mich einst in die Unterwelt.

Ich gebe zu, dass mir etwas mulmig war. Als junger Gott, von den Lichtern der Himmel verwöhnt und bisher nur von netten Leuten umgeben, sollte ich in der Finsternis Dienst tun. Als was? Wachmann? Fährmannsgehilfe? Persephones Kammerdiener?

Die Sache mit dem Kammerdiener hätte schon etwas Anklang gefunden. Aber auch bei uns Göttern klappt nicht immer alles, wie wir es gerne hätten. Mein Praktikumsplatz wurde nicht durch die Schönheit der Gattin Hades‘ erhellt sondern durch das spärliche Licht ein paar tropfender Kerzen. Ich verbrachte mein Praktikum bei Thanatos, dem Totengott.

Lasst mich an dieser Stelle ein paar erklärende Worte einwerfen:

Thanatos ist Grieche. Das weiß wohl inzwischen jeder. Doch muss ich erwähnen, dass er nicht nur griechische Tote abholt. Im Rahmen einer interreligionalen Dienstleistungsvereinbarung ist die Thanatos gGmbH – ja, Thanatos arbeitet gemeinnützig, oder kennt ihr jemanden, der für seinen eigenen Tod bezahlt? – für die ganze Erde zuständig. Im Fall einer Besiedlung fremder Planeten hat sich der Totengott sogar bereiterklärt, sich auch der dort verstorbenen anzunehmen.

Nach der Abholung der Seelen und ihrer Verbringung in die Unterwelt werden sie dann in ihre jeweiligen Nachwelten geschickt. Bei der Menge der religiös unterschiedlichen Nachwelten entsteht dadurch natürlich ein gewaltiger Verwaltungsaufwand. Sicherheitshalber hat die Firma deshalb auch diverse Haftungsausschlussklauseln in ihren Geschäftsbedingungen. Beispielsweise ist es nicht möglich, aufgrund der Verbringung in eine falsche Nachwelt Schadensersatzansprüche geltend zu machen.

Ja, solche Versehen kommen tatsächlich vor. Sie sind selten, aber sie kommen vor. Und es bedarf eines großen Verwaltungsapparates, um solches zu vermeiden. Und eine verkehrte Nachwelt ist noch das kleinste Problem. Es gibt, wie ihr vielleicht vermutet, Beschwerden aller Art, angefangen von der ewigen Diskussion über den falschen Zeitpunkt des Ablebens bis zur Frage nach Himmel oder Hölle. Wenn ihr mir diese recht einseitig religiöse Metapher nachsehen wollt.

Wie also läuft so ein Tag im Büro ab? Lasst mich von meinem ersten Tag erzählen:

Ich erhielt ein schönes kleines Einzelbüro mit Wasserblick. Früh zu Dienstbeginn sah ich den Sonnenuntergang durch mein Bürofenster, zum Feierabend den Sonnenaufgang. Oder so ähnlich. Genau kann ich es nicht sagen, denn die Sonne dringt nicht in die Unterwelt.

Als Verwaltungsangestellter hat man den großen Vorteil geregelter Arbeitszeiten. Kein Schichtdienst, lediglich mittwochs eine Frühsprechstunde. Die Mitarbeiter im Außendienst dagegen arbeiten in drei Schichten.

Ich hatte also mein schönes Einzelbüro und gleich am ersten Tag alle Hände voll zu tun. Kaum saß ich an meinem Schreibtisch, kam auch schon ein Fernruf rein. Bitte fragt nicht, wie das mit den Fernrufen funktioniert. Es ist kompliziert und die Erklärung widerspricht sämtlichen euch bekannten Prinzipien der Quantenphysik. Und die quantenphysikalischen Prinzipien, denen die Erklärung nicht widerspricht, kennt ihr noch nicht. Ehrlich gesagt, muss ich sie noch entwickeln, denn ihr Menschen braucht ja seltsamerweise immer und für alles eine logische Erklärung. Also habt Geduld.

Wo war ich ... Ah ja, der Fernruf.

„Willkommen bei der Thanatos gGmbH, Sie sprechen mit Gott“, meldete ich mich höflich wenngleich auch ein wenig nervös.

„Welcher Gott?“

Die Frau am anderen Ende schien etwas verwirrt, hatte ich mich doch klar und deutlich vorgestellt.

„Äh, einfache nur Gott. Das ist mein Name. Gott. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Die Dame reagierte schnippisch. „Also hören Sie mal! Sie sollten sich ruhig ordentlich vorstellen! Oder denken Sie, wenn Sie mir ihren Namen nicht verraten, sind Sie vor Beschwerden sicher? Das können Sie gleich unter ... also ... Sie wissen schon ... Ich werde ...“

„Wie ich Ihnen sagte, mein Name ist Gott. Einfach nur Gott. Freunde nennen mich beim Vornamen – Lieber. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Oh!“, antwortete die Dame etwas konsterniert. Minuten des Schweigens folgten. Oder Sekunden. Stunden vielleicht? Man verliert so leicht jegliches Zeitgefühl in der Unterwelt.

„Sind Sie noch da?“

Ein weiterer, im Nachhinein nicht quantifizierbarer Zeitraum des Schweigens endete mit einem verwirrten „Ja...“

„Wie also kann ich Ihnen helfen?“

Schweigen. Dann: „Ich hätte gerne Kontakt zu einem Verstorbenen.“

Super! Eine Kontaktanfrage gleich am ersten Tag. Ich ging schnell die Steintafel mit der Checkliste für Verstorbenenkontakte durch.

„Können Sie sich als amtlich registriertes und beglaubigtes Medium ausweisen?“

Die Dame zögerte. „Nun ... einen Augenblick ...“

Sekunden (Minuten?) später erhielt ich eine emaillierte Plakette, welche die Dame als offizielles Medium auswies.

„Ah, gut! Zu wem hätten Sie gern Kontakt?“

„Elvis“, antwortete die Dame.

„DER Elvis?“

Das Medium bejahte. Ich muss an dieser Stelle hinzufügen, dass mein Praktikum in etwa zur Zeit des Trojanischen Krieges stattfand. Elvis stand also erst viel, viel später auf meiner Agenda.

„Es tut mir leid, gute Frau“, erwiderte ich also, „aber Elvis ist noch nicht einmal geboren worden. Wenn Sie also in 10.328 Jahren noch einmal anrufen würden ...“

„Oh ... Aber ist er nicht vor 13 Jahren gestorben?“

Vor 13 Jahren gestorben? Elvis? Auch das noch.

„Ich fürchte“, erklärte ich dem Medium, „sie sind in einer temporalen Verwirrung gefangen und in der falschen Zeit gelandet. Einen Augenblick bitte.“

Einen Augenblick später hatte ich die Dame in die richtige Zeit verbunden. Auch solche Dinge kommen vor. Zeit spielt in sämtlichen jenseitigen Gefilden nur eine untergeordnete Rolle. Deshalb kann es passieren, dass man sich hin und wieder mit zukünftigen und auch längst vergangenen Problemen beschäftigen muss. Die Vergangenheit ist dabei im Allgemeinen leichter zu handhaben.

Man wollte mir am ersten Tag nicht gleich zu viel auf meine muskulösen Schultern laden. Nun, das könnte natürlich auch daran gelegen haben, dass meine Schultern nicht übermäßig muskulös aussahen. Das kam erst mit der Zeit. Auch Götter wachsen mit ihren Aufgaben. Deshalb gab man mir die Gelegenheit, mich erst einmal umzusehen. Nun gut, ein wichtiges Stück Post erhielt ich doch auf meinen Schreibtisch. Es hieß, man wolle meine Auffassungsgabe testen. In Wirklichkeit, so wurde mir nachher hinter vorgehaltener Hand erklärt, war man sich unsicher, was man tun sollte und wollte einen frischen, unbefangenen Geist zurate ziehen.

Es handelte sich um die Anfrage eines alten griechischen Sängers. Nein, damals war er natürlich noch nicht alt. Seine holde Gattin ward auf der Flucht vor einem Halbbruder des Sänger von einer Schlange gebissen und deshalb nicht mehr unter den Lebendigen auf der Erde. Der Sänger jedoch wollte seine Frau zurückhaben. Auf den ersten Blick gegen die Regeln. Jedoch war sie eine Nymphe und von daher nicht durch einen Schlangenbiss abberufbar. Ein Dilemma vor dem Herrn, wie ihr Menschen immer so schön mit Bezug auf meine bescheidene Person sagt. Mir wird im Nachhinein auch klar, was ihr damit meint.

Nun, die Dame war also tot, hätte aber nicht sterben dürfen. Was tun? Den Praktikumsanleiter fragen? Er blickte verwirrt drein und bat mich, doch einmal die Akte genau zu studieren. Vielleicht fiele mir unvoreingenommenem Geist irgendeine Lücke auf. Tat es. Die Lösung war einfacher, als den Stein der Weisen zu schaffen. Das Zauberwort hieß „Zuständigkeit“. Ich unterrichtete meinen Praktikumsanleiter, dessen Miene sich schlagartig aufhellte.

„Sehr gut, junger Gott“, sagte er lächelnd. „Sei so gut und setze eine Steintafel mit einer Antwort auf.“

Also nahm ich eine Marmortafel, Griffel und Schlegel und hub an, einen Antwortbrief zu meißeln. Doch schien mir diese Methode etwas zu mühselig, weshalb ich beschloss, etwas auszuprobieren, was mir später noch nützlich sein konnte. Beispielsweise um meinen Anhängern meine Gebote dokumentenecht mitzuteilen. Ich hob also meine Hände und ließ Blitze über das steinerne Rechteck zucken:

Sehr geehrter Herr Orpheus,

Ihr Einspruch gegen die Verbringung Ihrer Gattin Eurydike ist fristgerecht in der Verwaltung der Thanatos gGmbH eingegangen.

Zu meinem größten Bedauern – ein wenig Schmalz schien mir angebracht – sind wir mangels Zuständigkeit außerstande, Ihnen zu helfen. Ihre Gattin befindet sich in der direkten Obhut des Herrn der Unterwelt, Hades höchstselbst.

Ich leite Ihren Einspruch daher zuständigkeitshalber an die entsprechenden Stellen weiter und bitte Sie um direkte Kontaktaufnahme mit Hades. Ich empfehle Ihnen, sich hierbei auf §98 Abs. 2 des Gesetzes über die Verbringung von Seelen potentiell unsterblicher Wesen zu berufen, welcher den Tod solcher durch Schlangenbisse nur in Ausnahmefällen zulässt.

Hochachtungsvoll

GOTT

War doch ganz einfach, oder?

Etwas aufwendiger war da schon die letzte große Aufgabe dieses ersten Tages. Man bat mich, mich um eine Anfrage aus dem Hause Dike – das ist die personifizierte Gerechtigkeit (und wie gerecht diese Personifizierung ist!!!) – mit der Bitte um Akteneinsicht.

Das folgende mag auf den ersten Blick verwirrend klingen. Haltet euch deshalb noch einmal vor Augen, dass Zeit relativ ist und nicht überall die gleiche Bedeutung hat.

Dike, oder vielmehr einer ihrer Helfershelfer, bat also um Einsichtnahme in die Akte eines zur Zeit meines Praktikums noch in der Zukunft sterben werdenden. Ein schwedischer Reisender wird während seines Aufenthaltes auf der schönen Insel Sizilien vom ortsansässigen Oberhaupt der Unterwelt – ich bemerke gerade, wie zweideutig dieses Wort von euch Menschen benutzt wird, meint diese Unterwelt doch eher die zwielichtigen Gestalten, die sich nicht an Recht und Ordnung sondern an die eigenen Gesetze halten – zu einem Badeausflug im Hafenbecken eingeladen. Er, also der Schwede, bekam sogar extra Badeschuhe spendiert. Dummerweise waren diese aus Beton. Die Anwälte der Kanzlei Dike argumentierten, es müsse sich um ein Missverständnis handeln, da ihrer Kenntnis nach die Sanduhr des zu Tode kommen werdenden zum Zeitpunkt seiner Versenkung noch nicht abgelaufen sein wird.

Nun, was soll man machen? Ich wandte mich an das Archiv für zukünftige Todesfälle und erbat die Akte, welche leider nur in elektronischer Form vorlag. Nachdem ich also einen hochmodernen grauen Kasten aus dem Hause Hephaestos, Future Technology Labs (der Gott der Schmiedekunst dachte sich, für zukünftige Technologien könne man zukünftige Termini zwecks Benennung benutzen und nannte diesen Prototyp „Computer“), beantragt und einen Monat (Eine Woche? Ein Jahr?) später leihweise erhielt, ließ ich die Akte in der damals gängigen Form auf Marmortafeln vervielfältigen. Dieses Prinzip sollte sich in abgewandelter Form bis in die späte Neuzeit durchsetzen. Ihr habt das Klacken und Klicken eurer Festplatte sicher schon einmal bemerkt.

Als eifriger Praktikant war es mir aber ein Bedürfnis, mich dieses Falles selbst anzunehmen. Und siehe da! Die Kollegen aus der Gerechtigkeitsabteilung hatten recht! Es handelte sich um eine bedauerliche Verwechslung. Vielmehr wird es sich um eine solche handeln, nahm das Unterweltoberhaupt doch fälschlich an, der junge Schwede habe die Tochter des Vaters des organisierten Erbre ... Verbrechens in jenem Ort unsittlich berührt. Glücklicherweise wurde der Prüfungsantrag lange genug ins zeitliche Vorfeld gesandt, sodass durch ein „göttliches Wunder“, sprich einen korrigierenden Eingriff in die Erdtektonik, der Betonschuh rechtzeitig infolge eines unerwarteten Erdstoßes zerbrach und der arme junge Mann relativ unversehrt im Hafenbecken auftauchte. Die Familienangehörigen des Oberweltunterhauptes werden dem Jungen selbstverständlich an Land helfen, ihm Handtücher reichen und sich vielmals für das bedauerliche Versehen entschuldigen, während 20 Schritte weiter dem wahren Schuldigen ein letztes Blubberbläschen aus dem Mund entfleucht.

Ja, Fehler werden soweit möglich schon im Vorfeld korrigiert. Den jungen Schweden wird man erst am nächsten Morgen vom eifersüchtigen Verlobten der Mafiapatentochter des Nachbarortes, welche der junge Schwede seinerseits nun tatsächlich unsittlich berührt haben wird, erschossen auffinden. Ein Einspruch hiergegen wird aussichtslos sein. Seine Sanduhr ist zu diesem Zeitpunkt schlicht abgelaufen. Vorschriften sind Vorschriften.

Ich sehe, dass dort hinten eine junge Dame wissend lächelt, als hätte sie das, was ich in meinem Praktikum erlebte, selbst durchgemacht. Nun ja, ich gebe zu, dass wir Götter die Menschen vielleicht nicht in allen Belangen so streng nach unserem Bilde hätten formen sollen. Zumindest wisst ihr jetzt, dass auf menschlichen Behörden doch nur Göttliches geschieht. Und dass wir Götter irgendwie auch nur Menschen sind.

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